Roland Barthes: Zitat aus: Die helle Kammer (Nr. 48) Die Gesellschaft ist darauf bedacht, die PHOTOGRAPHIE zur Vernunft zu bringen, die Verrücktheit zu bändigen, die unablässig im Gesicht des Betrachters auszubrechen droht. Zwei Mittel stehen ihr hierfür zu Gebote. Das erste besteht darin, die PHOTOGRAPHIE zur Kunst zu machen, denn keine Kunst ist verrückt. Daher das hartnäckige Bemühen des Photographen, mit dem Maler zu wetteifern, indem er sich der Rhetorik des Gemäldes und seinem ausgeformten Modus der Präsentation unterwirft. Tatsächlich kann die PHOTOGRAPHIE Kunst sein: wenn jegliche Verrücktheit, jegliches Noema aus ihr verschwunden ist und damit ihr Wesen keine Wirkung mehr auf mich ausübt: könnte ich denn vor den »Promeneuses« von Puyo aus der Fassung geraten und ausrufen: »Es ist so gewesen«? Der Film hat teil an der Zähmung der PHOTOGRAPHIE, zumindest der Spielfilm, eben jener, von dem behauptet wird, er sei die siebte Kunst; ein Film kann verrückt sein, sofern man Kunstgriffe gebraucht, er kann die kulturellen Zeichen der Verrücktheit vorführen, verrückt ist er niemals aus sich selbst (aus seinem ikonischen Prinzip); er ist stets das gerade Gegenteil einer Halluzination; er ist einfach eine Illusion; seine Sehweise ist die des Traums, nicht die der Ekmnesie. Die zweite Möglichkeit, die PHOTOGRAPHIE zu zügeln, besteht darin, sie in solchem Maße einzuebnen, zu vulgarisieren, banal zu machen, daß neben ihr ein anderes Bild mehr Bestand haben kann, gegenüber dem sie sich auszeichnen, ihre Eigentümlichkeit behaupten könnte, ihren Skandal, ihre Verrücktheit. Eben dies geschieht in unserer Gesellschaft, wo die PHOTOGRAPHIE tyrannisch alle übrigen Bilder erdrückt: es gibt keine Stiche mehr, keine figürliche Malerei, allenfalls noch dann, wenn sie sich fasziniert (und faszinierend) dem photographischen Vorbild unterwirft. Beim Anblick von Kaffeehausbesuchern bemerkte jemand nicht zu Unrecht: »Sehen Sie doch, wie tot sie wirken; in unserer Zeit sind die Bilder lebendiger als die Menschen.« Eines der Kennzeichen unserer Welt ist vielleicht diese Umkehrung: unser Leben folgt einem verallgemeinerten Imaginären. Nehmen Sie die Vereinigten Staaten: alles verwandelt sich dort in Bilder: es gibt nur Bilder, es werden nur Bilder produziert und konsumiert. Ein extremes Beispiel: gehen Sie in ein New Yorker Pornolokal; Sie werden dort nicht das Laster finden, sondern nur seine lebenden Bilder (denen Mapplethorpe hellsichtig einige seiner Photos entnommen hat); man hat den Eindruck, daß das anonyme Individuum (beileibe kein Schauspieler), das sich da in Ketten legen und auspeitschen läßt, nur dann seine Lust erfährt, wenn diese Lust sich ins stereotype (abgedroschene) Bild des Sadomasochisten fügt: erst das Bild verschafft den Genuß: hierin liegt die große Wandlung. Eine solche Umwälzung stellt zwingend die ethische Frage: nicht etwa weil das Bild unmoralisch, gottlos oder teuflisch wäre (wie manche in der Frühzeit der PHOTOGRAPHIE behauptet haben), sondern weil es, in seiner Verallgemeinerung, unter dem Vorwand, die menschliche Welt zu illustrieren, sie ihrer Konflikte und Wünsche vollkommen entkleidet. Das Charakteristische der sogenannten fortgeschrittenen Gesellschaften ist dies: sie konsumieren heute Bilder und nicht mehr, wie die früheren Gesellschaften, Glaubensinhalte; sie sind daher liberaler, weniger fanatisch, dafür aber auch »falscher« (weniger »authentisch«) — was sich in unserem heute herrschenden Bewußtsein als Eingeständnis einer Grundstimmung von Überdruß und Langeweile äußert, als ob das Bild, indem es allgegenwärtig wird, eine Welt ohne Differenzen (eine indifferente Welt) erzeugte, in der sich nur noch, hie und da, der Schrei der Anarchismen, Marginalismen und Individualismen erheben kann: Schaffen wir die Bilder ab, retten wir das unmittelbare (unvermittelte) VERLANGEN! Ist die PHOTOGRAPHIE nun verrückt oder zahm? Sie kann eines so gut wie das andere sein: zahm, wenn ihr Realismus sich in Grenzen hält, wenn er von ästhetischen oder empirischen Gewohnheiten gemildert bleibt (etwa beim Durchblättern einer Zeitschrift beim Zahnarzt oder Friseur); verrückt, wenn dieser Realismus absolut und sozusagen ursprünglich ist und damit das Signum der ZEIT ins verliebte und erschreckte Bewußtsein dringen läßt: wahrhaftig eine Umkehrbewegung, die den Lauf der Dinge wendet und die ich abschließend die photographische Ekstase nennen möchte. Dies sind die beiden Wege der PHOTOGRAPHIE. Ich habe die Wahl, ihr Schauspiel dem zivilisierten Code der perfekten Trugbilder zu unterwerfen oder aber mich in ihr dem Erwachen der unbeugsamen Realität zu stellen. |