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7 Essais

Fragmentarische Poesie
5 Sätze über Zettels Traum
John Crowe Ransom
...vor Gebrauch schütteln...
Tagebuch eines Coyoten
Versuch über Gedichte
Über Oswald Wiener
* * *
Anmerkungen

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FRAGMENTARISCHE POESIE
ausgehend von den Strukturen der Wahrnehmung (Inhalt)
unter besonderer Berücksichtigung der Probleme des Machens (Form)
- ein Essai -

1
Ich ziehe einen anderen Zettel aus der Mappe mit flüchtigen Notizen für dieses Nachwort hervor. Auf dem Zettel steht, jedes Gedicht, noch das perfekteste, in sich geschlossenste, vollendetste Gedicht ist ein Fragment. Ich kann zugeben, ich verstehe das nicht. Die fragmentarische Form, die ich verschiedentlich benutzt habe, ist für mich eine Möglichkeit gewesen, dem Zwang, jede Einzelheit, jedes Wort, jeden Satz hinter einanderzulesen, und damit auch logische Abfolgen zu machen, wenigstens für einen Moment nicht zu folgen. Eine andere Möglichkeit sind die unverbundenen Vorstellungen, von einem Satz oder einem Satzteil zum nächsten jeweils ein anderes Bild zu bringen. Ist das neu? Nein, alles ist doch da! Diese springende Form, mit den Zwischenräumen, die vorhanden sind, Gedankensprünge, Abbrüche, Risse, und neu ansetzen, nach dem zuletzt Geschriebenen, hat mir jedenfalls die Gelegenheit mehrerer Abflüge gegeben.

Rolf Dieter Brinkmann
2
Was ich möchte ist: die Ränder abgrasen. Die Ränder der fetten Weide, auf der sich die Ochsen des Allgemeinen tummeln, um sich von ihrer Operation zu erholen. Kastriert wie sie sind, ist ihnen der Blick fürs Entscheidende verlorengegangen. Gefühle wie »Liebe & Haß« sind ihnen fremd. Verliert sich mal ein Stier in ihr Revier, werden sie aufgescheucht: dann rotten sie sich zusammen und vertreiben den ungebetenen Eindringling.
An den Rändern des Allgemeinen findet das Leben statt. Dort findet man die schönsten Blumen.

3
BEI/SPIEL
Ich sitzte in einem Biergarten. Ich schaue auf. Ich sehe Menschen. Aber: was ich (wirklich) wahrnehme: schräg links von mir eine schöne Frau mit aufregenden Beinen (sehr lang!), die Tafel mit den Angeboten des Tages (Brotzeit, Ochsenbrust, Spareribs, etc...), ein Dackel, mein Fahrrad...

- Wie entsteht aus diesen Fragmenten eine Einheit???

4
THESE:
- die Silbe erzeugt den KLANG
- das Wort erzeugt den SINN
- die Zeile (nicht: der Satz) erzeugt den ZUSAMMENHANG
- der Text ist die WELT
- POESIE muß gute PROSA werden!

5
zum Atem:
die Luft geht dann aus, wenn der Sinn / die Aussage / das Bild abklingt. So bildet die Zeile eine Einheit, die vom sinngebenden (-siftenden?) Atem geprägt ist. Der Atem versagt / verpufft, wenn die Einheit der Zeile geschlossen ist. Der Körper (also) bestimmt die Form und den Gehalt.

Wie aber kommt man zum Inhalt?

6
Ein dichter mag gestimmt werden durch die luft eines besonderen kulturellen raumes, aber sein bewusstsein wird sich über diesen raum erheben und wird seine erfahrungen suchen auch in anderen bereichen. Das abenteuer des geistes hat begonnen, es mag vielleicht schon für tot erklärtworden sein. Dichtung ist heute ein lebensgefährliches beginnen, die schreckschüsse der dadaisten sind noch nicht verhallt, und eine furchtbare wahrheit steigt herauf, ein vers von erhabener pracht und großer faszination kann morgen das todesurteil seines dichters sein.

(Rainer Maria Gerhardt)
7
...der Nutzen eines Menschen für sich und damit für andere, liegt darin, wie er sein Verhältnis zur Natur begreift, zu jener Kraft, der er seine einigermaßen kleine Existenz verdankt. Wenn er ausschwärmt wird er wenig finden, was er besingen könnte, außer sich selbst, und sein Singen, solch paradoxe Wege geht die Natur, wird sich an künstliche Formen hängen, die sich außerhalb seiner selbst befinden. Doch wenn er in sich verharrt, wenn er über die Grenzen seiner Natur nicht hinausdrängt, da er ja Teil der größeren Kraft ist, wird es ihm möglich sein zu lauschen, und was er durch sich hindurch hört, werden Geheimnisse sein, die die Dinge mit ihm teilen. Und durch ein Gesetz der Umkehrung werden seine Formen ihre eigenen Wege gehen. In diesem Sinne führt der projektive Akt, nämlich der Akt des Künstlers in dem größeren Feld der Dinge, auf Dimensionen, die größer sind als der Mensch. Denn im Augenblick, wo jemand in vollem Umfang zu reden anfängt, ist es sein Problem, dem Werk die eigene Ernsthaftigkeit zu verleihen, eine Ernsthaftigkeit, die hinreicht, das Ding, das er schafft, zu bewegen, seinen Platz neben den Dingen der Natur einnehmen zu wollen. Das ist nicht leicht. Die Natur geht mit Ehrfurcht vor, selbst wo sie zerstört. (Ganze Arten gehen unter mit einem Knall.) Aber der Mensch unterscheidet sich durch den Atem von anderen Lebewesen. Der Klang ist eine Dimension, die er erweitert hat. Die Sprache ist einer seiner stolzesten Akte.
(Charles Olson)
8
der Rhytmus ist wichtig und nicht die Grammatik - der Stil ist nichts, die Melodie ist alles. Der Rhythmus treibt vorwärts, gibt die Richtung an: die Melodie macht, daß es gut klingt und haften bleibt, nicht im Nichts des Vergessens verlöscht und versinkt im Urschlamm. Ein Korsett (= traditionelle Formen) engt ein und erstickt.

9
NOTIZEN

die ganze Sache etwas lockerer sehen und nehmen

über Aufschreib-Systeme (vgl. Knittler / Theweleit, et al.) nachdenken: nur das Typoscript darf überleben!

and remember all the poems in the morning mail and never     heard a voice say "Fail, poet, fail"  (Ed Sanders)

TitelAlternative:    HIRN / MASCHINE & POESIE
                          Notizen zu einer Neuen Fröhlichen Wissenschaft

These fragments I have shored against my ruins
(T.S.Eliot: The Waste Land, vers 430)
Diese Scherben habe ich gestrandet, meine Trümmer zu stützen. (Ernst Robert Curtius)

der Unterschied zwischen Eliot (konvent.)
                       & Pound (neu)
                       (Make It New)
vgl. Olson, Projective Vers, Seite 120

dieser Handke scheint mir ein gefährlicher Einheits-Ideologe zu sein

Arno Schmidt über die Fiktion des epischen Flusses

für HOMER gab es einen Zusammenhang (eine Harmonie?) der Welt, für mich nicht

der Schreiber der eigenen Geschichte sein: was immer man darunter verstehen könnte und kann: vgl. Charles Olson: der Schluß der 'Mayan-Letters'. - Es ist schwierig, beides zu sein: Historiker und Dichter

10
Die poetisch organisierte Simultaneität disparater Sinneswahrnehmungen, Bewußtseinsreize, Reflexionen und Erinnerungen; ein Ensemble poetischer Augenblicke, das nicht mehr zu einem organischen Ganzen synthetisiert wird. 'Montagekunst'-Stücke sind Versuche, in einer offenen lyrischen Schreibweise. (Michael Braun: Eklektizismus und Montagekunst. Das 'Posthistoire' in der Lyrik, in: Sprache im technischen Zeitalter, Berlin 1986, Seite 98)

11
Ich glaube nicht, daß die Psychologie (endgültig) abgewirtschaftet hat und nun die Automatentheorie ihren Platz einnehmen könnte. Ich bin überzeugt davon, daß O. Wiener unrecht hat, wenn er KI auf Platz 1 seiner HitParade setzt.

Eine psychologisch beschreibende und aufklärende Literatur wird immer ihre Bedeutung / ihren Sinn haben.

Aber: ist nicht jedes Gedicht, wie auch jeder Automat (KI) ein Kunst-Produkt, das nach bestimmten BauPlänen gearbeitet ist und bestimmte/bestimmbare Reaktionen auslöst??! Nur: man (!) ist noch nicht sehr weit gekommen in der Untersuchung dieser Reaktionen.

Das wäre / ist aber eine Aufgabe der sog. Literaturwissenschaft und nicht eine der Poesie, höchstens peripher!

12
ÜBER DAS FRAGMENT

Eine Zeitlang schwebte es mir vor, die einzelnen Ereignisse, den Berg und mich, die Bilder und mich, zu beschreiben und in unverbundenen Fragmenten nebeneinander zu stellen. Dann sah ich aber das Fragmentarische hier als das Wohlfeile, weil es nicht das Ergebnis einer die Einheit begehrenden und vielleicht dann scheiternden Anstrengung sein würde, sondern vorweg eine sichere Methode. (Peter Handke: Die Lehre der Saint-Victoire, Frankfurt/M 1984 (= suhrkamp taschenbuch 1070), Seite 78)

Das Fragmentarische als Methode! - Man muß schon weit gehen, um solch blühenden Unsinn zu finden! Wahrnehmung ist nur fragmentarisch möglich, - und: eine die Einheit begehrende Anstrengung kann nur Lüge sein, da sie etwas vortäuscht im Sinne einer unmöglichen, weil nicht-(un-?)menschlichen Utopie. Es gibt keine Einheit. Und wer versucht, sie als möglich zu bezeichnen, ist ein Scharlatan. Die Welt abzubilden- so wie wir sie (zwangsläufig unvollständig und voller Brüche) erkennen können: das scheint mir die Aufgabe der Literatur zu sein. Nicht: eine vermeintliche (illusionäre) Einheit zu proklamieren -: das ist die Aufgabe der Priester. Nur das Fragment sagt die Wahrheit.

Fragmentarisch ist eine Poesie dann, wenn sie gemäß den Gesetzen der Wahrnehmung gebildet ist. (Jeglicher Art von Wahrnehmung) Wann entspricht die Form meiner Wahrnehmung der Form des Sonetts? Heute! Sonett (stellvertretend für alle 'herkömmlichen Formen' der Poesie) als ironisches Spiel - das ja! aber sonst? Mein Empfinden (sensorische Wahrnehmung?) von einer Sache ist NIE einheitlich, immer nur bruchstückhaft. Wie kann ein Text eine 'geschlossene Form' bilden, wenn er meine Einstellung zu dieser Sache wiedergeben will?

13
Sinnvoll ist es, hier, bei dieser Unglückszahl zunächst einmal abzubrechen. Es war ein erster Versuch, über die (fast) nicht ergründbaren Hintergründe der Poesie nachzudenken. Da ich den Text nicht unbedingt als 'gescheitert' ansehen kann, soll er stehen bleiben und als Ausgangspunkt dienen für einen erneuten, diesmal entschieden umfassenderen und gründlicheren und tiefergehenderen Versuch über die Wahrnehmung und 'Poesie' (was immer das sein mag).

Der Titel des Essays ist bereits da:

HIRN / MASCHINE & POESIE
Notizen zu einer Neuen Fröhlichen Wissenschaft
Wann, wie und womit ich diesen Text beginnen kann, weiß ich nicht. Daß es sein muß, weiß ich. Der Tag wird kommen.


FÜNF SÄTZE ÜBER ZETTELS TRAUM


1

Der subjektive Zugang: die Personenkonstellation interessiert: insbesondere die Figur des nur in seiner Bücherwelt lebenden Gehirntiers; allerdings immer mit dem Wissen darum, daß man selbst  s o  nicht leben kann.

2

Zettels Traum ist der erste Versuch, zu unbewußten Schichten im Menschen (= Mann, = beginnende Impotenz, etc.) vorzustossen: dahin, wohin bisher noch niemand gekommen ist; es ist der erste Versuch, diese unbewußten Schichten »zur Sprache zu bringen« es ist also ein Versuch, die Erkenntnismöglichkeiten der Sprache zu erweitern.»

3

Der Umfang von 1330 Großseiten ist ein nichtswürdiges Argument gegen das Buch: im Zeitalter der auf 120 Seiten aufgeblasen Fürze eines Handke endlich eine Welt, die dem Leser Raum gibt, sich zu verlieren; was aber nicht Unverbindlichkeit bedeutet (nach dem Motto: »Hier findet jeder etwas«.»

4

Zettels Traum bietet dem Leser eine Vielzahl von Perspektiven, unter denen das Werk gelesen werden kann: es ist nicht auszuschöpfen: immer wieder findet man neue Zugänge zu bestimmten Textpassagen: die Erkenntnismöglichkeiten scheinen unbegrenzt.

5

Außerdem: was ich eigentlich noch nie gehört habe: Zettels Traum ist ein ungeheuer liebevoll-zärtliches Buch: in den Naturbeschreibungen, im Reden über Literatur ... seltener allerdings in den Worten über Menschen (aber auch...)


JOHN CROWE RANSOM:
DAS LYRISCHE WERK

Die wichtigsten Gedichtbände Ransoms, der als Kritiker (er zählte zu den Begründern des >New Criticism<) und Mentor jüngerer Lyriker zu den Zen-tralgestalten der amerikanischen Lyrik des 20. Jh.s gehörte, erschienen zwischen 1919 und 1927. Während das theoretische Werk noch heute viel beachtet wird, geriet das lyrische Schaffen immer mehr in Vergessenheit. Maßgebend für die Auseinandersetzung mit seinen Gedichten ist die dritte, revidierte und erweiterte Auflage seiner Selected Poems (1969). Bedeutende literarische und politische Zirkel der Südstaaten wie »The Fugitives« und »The Agrarians« waren seine geistige Heimat. Hier arbeitete er mit Allen Tate und Robert Penn Warren zusammen. 1939 gründete er die einflußreiche Kenyon Review. Hintergrund seines Schaffens war und blieb die bäuerlich-konservative Geisteswelt der Südstaaten, der er allerdings nicht unkritisch gegenüberstand.

Der erste Gedichtband Poems About God (Gedichte über Gott) erschien 1919, als der Autor in Europa weilte. Das Echo war zwiespältig: Viele Kritiker zeigten sich erstaunt über die Unbekümmertheit und Emphase, mit der Ransom sein Thema behandelte, andere sahen in dem Werk ein Sakrileg. Man konstatierte Einflüsse von Th.Hardy und R.Frost. Bereits in einem Vorwort zu diesem Band aber verteidigte sich Ransom gegen vorauszusehende Vorwürfe der Kritiker: I find myself thinking sometimes that the case about God may not be quite so desperate as the young poet chooses to believe (Ich ertappe mich manchmal bei dem Gedanken, daß die Sache mit Gott nicht so hoffnungslos sei wie der junge Dichter zu glauben meint.) Diese frühen Gedichte sind einfache Geschichten, Fabeln, Anekdoten, getragen von einer jugendlichen Kraft, die weiß um die Differenz zwischen dem, was der Mensch von seinem Leben erwartet und dem, was er in Wirklichkeit bekommt. Sie sind, wie später niemals wieder, geprägt von Herkunft und Biographie. Die Heimat Tennessee ist immer gegenwärtig; der Autor spricht direkt, ohne Maske, ohne Distanz zum Leser.

Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten gründete Ransom mit Freunden wie Tate das Magazin The Fugitive. In den neunzehn Ausgaben zwischen 1922 und 1925 erschienen viele der Gedichte, die später das Kernstück seiner Selected Poems (1. Auflage 1945) bilden sollten. 1924 veröffentlichte er mit Hilfe von Robert Graves und T.S.Eliot den Band Grace After Meat (Anmut dem Fleisch gemäß). Er enthält neue Gedichte und veränderte Fassungen älterer Texte. Fortschritte in Technik und Form sind deutlich erkennbar; die Stimme ist gefestigt. Fast gleichzeitig erschien in New York Chills and Fever (Kälte und Fieber). Ransom selbst hielt seine Gedichte für unzugänglich und war von einem Mißerfolg überzeugt: I should imagine there are not fifty who could read it with sympathy and not even ten who will (Ich würde meinen, es gibt keine fünfzig, die es lesen können und noch nicht einmal zehn, die es wollen.). Die Kritik registrierte die beiden Bände als die eines begabten Poeten, dessen sprachliche Kraft und technisches Können außer Frage standen. Man verglich und stellte den Autor sogar mit T.S.Eliot, E.Pound und W.Stevens gleich.

Ransoms letzter eigenständiger Gedichtband Two Gentlemen in Bonds (Zwei Herren in Fesseln) wurde 1927 bei Alfred Knopf in New York verlegt. Allen Tate erklärte das Werk zur »last pure manifestation of the culture of the eighteenth-century South« (zur letzten rei-nen Manifestation der Kultur des Südens im achtzehnten Jahrhundert«). Die konservative Gesinnung des Südstaatlers fand ihren Ausdruck in weniger geglückten Gedichten, die die Perfektion der früheren nicht mehr erreichen konnten. Die ironische und zuweilen satirisch bis sarkastische Weltsicht bestimmt die Aussage der Gedichte, die sich auf die alten Themen (hierarchisch gegliederte Welt, Tradierung überlieferter Werte, Familie, agrarisch geprägter Lebensstil, Skepsis gegenüber der modernen Welt, etc.) konzentrieren. In der Poesie findet der Dichter Ersatz für die verlorengegangene göttliche Ordnung.

John Crowe Ransoms lyrisches Werk ist schmal. Er veröffentlichte zu Lebzeiten weniger als 160 Gedichte. Die definitive Ausgabe der Selected Poems enthält achtzig Gedichte, von denen nur fünf nach 1927 entstanden sind. Die Zeit der lyrischen Produktion umfaßt also kaum ein Jahrzehnt.

1941 gab John Crowe Ransom jedoch mit seinem Werk The New Criticism (»Die Neue Kritik«) der wohl wesentlichsten zeitgenössischen literaturtheoretischen Bewegung seiner Zeit einen Namen. Die zuvor dominierende historisch-biographische Textbetrachtung wird hier von Ransom in der Nachfolge I.A.Richards zurückgewiesen, ebenso wie psychologisierende Deutungsansätze. Das Gefühl, die Emotion, die ein Gedicht auslöst, sei nicht im Leser zu suchen, sondern im Objekt des Gedichtes selbst, wobei »Objekt« vieles sein kann: ein Gegenstand, eine Erfahrung, eine Idee, eine Situation, etc.. Das Gedicht wird so zu einem Erkenntnisinstrument, mit dem die Realität erkannt und dargestellt wird. Diese Betrachtungsweise darf allerdings nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnismethoden gleichgesetzt bzw. verwechselt werden. Der Unterschied zwischen beiden Methoden macht sogar deren Wesen aus (»and it is that difference wich defines them«). Das Gedicht ist für Ransom »a loose logical structure with an irrelevant local texture« (»eine aufgelöste logische >Stuktur< mit einer unbedeutenden lokalen >Textur<«). Dabei ist unter »Struktur« das zu verstehen, was gemeinhin als »Gegenstand« bzw. »Thema« des Gedichts verstanden wird; mit »Textur« dagegen ist die Sinnebene des Gedichts gemeint, die sich einer rein logisch und rational vorgehenden Interpretation verschließt. Die erkenn- und erfaßbaren Strukturen des Gedichts sind nach Ransoms Vorstellung die Mauern des Hauses, die »Textur« hingegen das, was das Haus lebendig macht. Aufgabe des Kritikers ist es, diesen Sinngehalt zu erkennen und zu beschreiben. Falls er dazu nicht in der Lage ist, hat er seine Aufgabe nicht erfüllt. Wichtigstes sprachliches Mittel der »Textur« ist die Metapher, das Bild, das als »Imitation« der Wirklichkeit verstanden wird. Beide (»Struktur«/»Textur«) führen nach Ransoms Worten eine korporative Existenz: es gibt also kein Aufgehen der einen Schicht in der anderen oder eine Synthese beider. Es gibt auch keine Gleichzeitigkeit, sondern ein Nacheinander. Während der erste Schritt dem Leser des Gedichts eine logisch nachvollziehbare Beschreibung der Wirklichkeit bietet, kommt er im zweiten zu einer Unmittelbarkeit und onthologischen Dichte (»ontological density«), die ihm keine wissenschaftlichexakte Beschreibung je bieten kann.

Ransoms dualistische Verstehenweise von Lyrik blieb nicht unwidersprochen. Er selbst hat in späteren Schriften Revisionen vorgenommen. Von den wesentlichen Aussagen seines Hauptwerkes hat er allerdings nichts zurückgenommen: das dichterische Kunstwerk ist der komplexeste und dichteste Erkenntnisakt des Menschen, die Kritik muß versuchen, diesen Akt nachzuvollziehen.

Auch wenn der Einfluß des Literaturtheoretikers Ransom den des Lyrikers bei weitem in den Schatten stellt, sollten seine Gedichte als eine originäre Stimme des literarischen Südens der USA weiterhin gehört werden. In ihnen spiegelt sich das moderne Bewußtsein, indem es gleichzeitig kritisiert wird. Vielfältige Würdigungen und Preise sind ihnen zuerkannt worden, so u.a. der bedeutende 'National Book Award in Poetry' für die Selected Poems. Seine Bedeutung für die amerikanische Literatur läßt sich mit den Worten Hugh Kenners wiedergeben: »John Crowe Ransom exerted more influence on humane learning in America than possibly anyone else in this century« (»John Crowe Ransom hat auf die humanistische Bildung in Amerika mehr Einfluß ausgeübt als es irgendeinem anderen in diesem Jahrhundert möglich war«).

AUSGABEN: Poems About God, New York 1919. - Chills and Fever, New York 1924. - Grace After Meat, London 1924. - Two Gentlemens in Bonds, New York 1927. - God Without Thunder: An Unorthodox Defence of Orthodoxy, New York 1930. - The Worlds Body, New York 1938. - The New Criticism, Norfolk, Conn. 1941. - Poetics, Norfolk, Conn. 1942. - A College Primer of Writing, New York 1943. - Selected Poems, New York 1945 (rev. u. erw. Fassung, ebd. 1969). - Poems and Essays, New York 1955. - Beating the Bushes: Selected Essays 1941-1970, Norfolk, Conn. 1972. - Selected Essays, Baton Rouge 1984. - Selected Letters, Baton Rouge 1985.

LITERATUR: C.Brooks, Modern Poetry and the Tradition, Chapel Hill 1939. - K.F.Knight, The Poetry of John Crowe Ransom: A Study of Diction, Metaphor and Symbol, The Hague 1965. - R.Buffington, The Equilibrist: A Study of John Crowe Ransom's Poems, 1916-1963, Nashville 1967. - Th.H. Parsons, John Crowe Ransom, New York 1969. - U.Halfmann, Der amerikanische "New Criticism", Frankfurt/Main 1971. - M. Williams, The Poetry of John Crowe Ransom, New Brunswick, New Jersey 1972. - Th.D.Young, Gentleman in a Dustcoat. A Biography of John Crowe Ransom, Baton Rouge 1976. - L.D.Rubin Jr., The War Fugitives: Four Poets and the South, Baton Rouge 1978. - Th.D.Young, John Crowe Ransom. An Annotated Bibliography, New York 1982. - K.Quinlan, John Crowe Ransom's Secular Faith, Baton Rouge, 1989.


...VOR GEBRAUCH SCHÜTTELN...
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die inhaltsangaben gefallen mir noch nicht so recht: sie sind (teilweise noch zu sachlich-berichtend, könnten (vielleicht) spannender sein... ich weiß allerdings auch nicht, wie so etwas zu bewerkstelligen ist. bei den inha...
---  da ist (leider!) eine Lücke im Text: wie sie dorthin gekommen ist, weiß ich leider nicht. Wo der Text geblieben ist, weiß ich auch nicht; wahrscheinlich hält er sich in den unergründlichen Tiefen der Festplatte versteckt ---
...deutiges (polyphon?) werden... also mehrere stränge laufen zusammen... wird die zeit aufgehoben? - sind vergangenheit und gegenwart eins... und die zukunft ist sowieso nicht vorhanden... wenn er (MVL) das mit der simultanbühne wirklich geschafft hat, ja! dann wärs schon ein großes buch... wie gesagt, ich werds überprüfen...

manchmal habe ich den eindruck, als seien die verhältnisse im roman vom großen zampano vorherbestimmt, dann wieder scheinen es knallharte wirtschaftliche interessen zu sein... dann (gegen ende, seite 33: zitat) wieder kommt mir der autor wie ein medium vor: der imperialismus bestimmt das leben der romanfiguren dieses autors, der aber von dieser bestimmung nichts wissen will und sich die erklärung 'zwei peru' zurechtlegt... würde bedeuten, daß er ungewollt so etwas wie eine materialistische (marxistische?) analyse peruanischer lebensverhältnisse geschrieben hätte???

interessant fände ich: gibt es einen zusammenhang zwischen:
a) 'fragmentarischer' form des romans  -
b) 'fragmentarischer' erkenntnis (bei den personen) - und -
c) politsch-wirtschaftlichen gegebenheiten (= produktionsver-hältnisse)? denn: das was auf seite 29 'zufall' genannt wird, scheint mir deshalb zufall genannt zu werden, weil (scheinbar, ich sags mit vorsicht) sowohl die romanfiguren als auch ihr autor die verhältnisse nur bruchstückhaft und unvollständig und damit falsch erkannt haben... erkannt haben wollen...

- - - - - - -
weiter:
gibt es einen bestimmten (vielleicht sogar zwingenden) grund dafür, daß die einzelnen kapitel nicht einheitlich strukturiert sind (etwa: inhaltsangabe - formale aspkete - interpretation - stellung im gesamtwerk - etc.)? Wenn vor der ihaltsangabe formale aspekte erörtert werden, bedeutet dies, daß das werk vor allem formal bedeutsam ist...?

was mir weiterhin aufgefallen ist: die bücher scheinen alle (???) einen ziemlich großen zeit - raum zu umfassen: läßt das irgendwelche rückschlüsse zu? läßt sich das erklären / interpretieren? kann MVL einen einzigen tag beschreiben?

es gibt viele fremdworte... 'kohärenz' kommt verdächtig oft vor: magst du es?

zu S. 42:
Howard Winchester Hawks hat mal gesagt: die kamera soll in augenhöhe sein, um einen möglichst 'objektiven' eindruck erzielen zu können: der film muß so 'sehen' wie der zuschauer. d.h. der film ist objektiv (die registrierende maschine) und subjektiv (der die kamera haltende mensch) zugleich. was aber 'sieht' ein schriftsteller? vorsicht bei ausflügen in die filmtechnik...

zwischenbemerkung:  langsam aber sicher drängt sich mir das gefühl auf, daß ich mich in die rolle des schulmeisters hineinmanövriere... daß ich dinge bemerke, die (eigentlich, sozusagen) am kern vorbeigehen. im GROSSEN UND GANZEN einverständnis, dann aber doch beckmesserisch kleinigkeiten ankreidend, die das GANZE eigentlich nicht treffen... unbefangen bin ich nicht... kann ich nicht sein...

es wird mir leider nicht ganz klar, welches buch von MVL ich, wenn ich noch keins gelesen hätte, ich zuerst lesen sollte... ich bin gespannt, was du über der 'Krieg am Ende der Welt' schreibst... ich bin neugierig geworden auf 'Das grüne Haus'... dann wird mir gesagt, daß das 'Gespräch in der Kathedrale' den »Höhepunkt an formaler Komplexität

zum Fragment:
wenn ich in einem biergarten sitze, vor mir das bier, links vorn die tafel mit den (alltäglichen) angeboten, etwas weiter rechts eine (unheimlich langbeinige) blondine, hinter mir ein kläffender köter, in meiner hand ein roman (gespräch in der 'kathedrale'), ich lese zufällig wie in einem zwinger ein dackel (in einem sack) erschlagen wird, da kommt der kellner und bringt mir ne currywurst... and so on... - wie soll da ein (um mit dem von dir so wenig geschätzten Handke zu reden) 'ein die einheit begehrendes streben' möglich sein... alle diese (auch und vor allem romanschriftsteller) einheitsideologen sind doch gottverdammte lügner... es gibt nur das FRAGMENTARISCHE... die einheit ist ein metaphysisches gespenst und gehört in den bereich der priester...sie kann ganz nützlich sein, wenns einem schlecht geht und man eine schönes gefühl haben möchte... also aus therapeutischen gründen... da aber der schriftsteller kein therapeut oder priester (vgl. Arno Schmidt) ist, kann er die welt nur fragmentarisch darstellen. oder: als epischen wassersturz, der von schwelle zu schwelle schäumt als beispiel überlegenen zerfalls, aber doch genau so unten ankommt wie ol' man river... (sagt Arno; vgl. Berechnungen I und anderes...) es gibt bei ihm einige begründungen, die (vielleicht, eventuell) auch auf MVL zutreffen könnten - ich bin da sehr vorsichtig...

also:  die seiten 50-75 gefallen mit am besten! auch wenn das alles nicht auf deinem eigenen mist gewachsen ist...so ists dennoch eine stramme leistung. dem leser werden gute argumente in die hand gegeben, mit denen er seine vargas-lektüre begründen kann. es gehen ihm (ganz bestimmt!) mehrere lichter auf. allerdings: es könnte (bemerke den konjunktiv!) die gefahr (?!) bestehen, daß er die leistungen des autors zu sehr auf Das grüne Haus bezieht, trotz deiner beteuerungen, daß das ganze werk von dieser erzähltechnischen leistung (!) geprägt ist... was ich bei werken der sog. sekundärliteratur (also im weitesten sinne: lokomotivführer-literatur) wenig gefunden habe: auch wenn der leser kein MVL-leser ist, hat er dennoch etwas von der lektüre: man zieht (zumindest aus diesen 25 seiten) einen gewinn raus, der über den (reinen? unreinen?) gegenstand hinausgeht.
persönliche zwischen-rand-bemerkung: ich hoffe, daß du ka-piert hast, daß ich dich nicht zu den lokomotivführern zähle!!!

die einleitung zur romantheorie (76-80) klingt mir streckenweise etwas zu spitzwegisch... der einsame kämpfer auf seinem weg zum ruhm... inwieweit sind die selbstaussagen diesbezüglich ehrlich oder romantisierende und verklärenden rückschau...
...das hinzugefügte element... ganz gewiß ein leerer begriff, der angefüllt werden will. aber: ist alles im, an und um den roman herum 'hinzugefügtes element'... wenn nicht, was ist das andere? wem wird es hinzugefügt? der realität etwa oder dem realitätsgehalt des romans. wenn man es abzieht, bleibt dann sog. dokumentarische oder abbild-literatur übrig... weil mir das mit dem hinzugefügten element zu selbstverständliche und einleuchtend erscheint, habe ich da so meine bedenken... die darstellung ist schlüssig und überzeugend (spricht der schulmeister).

nur noch eine spekulation:
vielleicht ist ihm nach der 'kathedrale' die puste ausgegangen, denn ein totaler roman (ich kenn eigentlich nur einen: ULYSSES: in einem einzigen tagesablauf "den weltalltag einer epoche" (H.Broch) und eines menschen darzustellen: von welchem menschen wissen wir mehr als von Leopold Bloom? - welch anderer roman könnte sich dieses verdienst zuschreiben???) - denn ein totaler roman erfordert ja unendlich viel kraft und zeit und wohl auch hingabe (Joyce brauchte 7 jahre): vielleicht kann er nicht mehr... nach der 'orgie' nun die 'impotenz'???
 
 


TAGEBUCH EINES COYOTEN

-
To a world filled with compromise we make no contribution

-

and there were not 'those girls'
there was one face ... «

 

ein schiefhängend Maul
und die unvergeßliche Triefnase
geschunden von allen 9 Schwestern
platt auf den Boden gedrückt
betrogener Betrüger der ich bin

nur beinahe geschlagen
übe ich am Boden
den aufrechten Gang
 

Sich immer nur wiederholen wird auf die Dauer langweilig und führt zu Depressionen - wie aber immer und immer wieder neues 'schaffen', etwas, über das man selbst überrascht ist, das nicht immer wieder vernichtet werden muß.

TEXTE fließen manchmal langsam. Wenn es Dürreperioden gibt, ist doch Wasser da - unterirdisch; irgendwie und irgendwann kommt es zum Vorschein.

aber manchmal ist es schon schwer ...

Warum ist es nur so schwer, für sich selbst die passenden Bilder zu finden. Die meisten sind ausgelutscht und verbraucht. Viele sind einfach nur lächerlich. Es passt hinten und vorne nicht!

ich aber gehe
in ein anderes Blau
   (Rolf Dieter Brinkmann)

Come sail your ships around me
and let your hair hang down
   (Nick Cave)

* * * * *

oder Peter Rühmkorf:
der Mann ist vollinhaltlich ein Arschloch

oder ich:
-> ich hab'ne Option auf `ne Wiederanlage
-> handgerüttelt (wie bei Sektflaschen)
-> stachlig: wie meine Zwergschlangenhautkiefer
-> Kuckucksei im eigenen Nest
-> Kinder rotzen übers Geländer
 und Mütter schieben ihre fetten Ärsche durchs Gewühl
-> Wo ICH bin ist NIEMAND
-> Wo ICH nicht bin ist NIEMAND

* * * * *

erste Notiz zu einem Entwurf:

SAMSON liegt schwer auf der Zunge
  spaltet die Worte - lispelt
      (lischpelt) auch manchmal
      nur so vor sich hin
der Löwe
manchmal (schon wieder)
brennts wie eine besonders scharfe Paprika
manchmal (schon wieder)
bin ich benebelt vom grauen Dunst
- wer schaufelt mein Hirn frei?
und wo nehm ich die vielen
Kopfschmerztabletten her?

(23.12.91)

* * * * *

sich auseinandersetzen mit dem,
was ist -
mit dem, woran der Meister gescheitert
- mit dem Jetzt -
ein Zeitgefühl entwickeln (können)!

(21.2.92)

* * * * *

* * * * *

NICHTS
ist erklärbar auf der großen Ebene
Zeit ist nicht
Raum ist nicht
Nichts ist zu sehen
Dinge nicht
Nichts ist erklärbar

ALLES
ist zu finden auf der großen Ebene
meine Geister sind allgegenwärtig
in der Zeit und im Raum

* * * * *

EIN MENSCH

And there were not 'those girls',
there was one face ...

Ezra Pound: Canto III

dieses Zitat als Ausgangspunkt nehmen für ein Gedicht über [R] !

Ein Gedicht schreiben
(aber nun wirklich ein Gedicht)
über ...
    nein - so geht's wirklich nicht
    (ÜBER) -> ist wirklich kein Gedicht möglich

    PERSON  -  PERSÖNLICHKEIT  -  PERSONAE
    warum nicht Mensch / MENSCH ?
-> Schwierigkeit

begonnen:  14.1.92
- eine Woche nach [R]'s Geburtstag

* * * * *

DIESES LAND

... unser Land
&
unsere Sprache ...

Du - sei verdammt, sei verdammt
um der Toten willen, die Du auf Deine Schultern
geladen hast, immer und immer wieder ...
unermüdlich hast du Menschen vernichtet
warst unerschöpflich in Deinem Einfallsreichtum
Deine Phantasie übertraf alle menschenmöglichen Erwartungen

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Entsagung / Entfremdung / Entenscheiße / Kot - Flügel für den Phönix
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immer dann ... immer dann ...
wenn es galt, den Tod zu bringen, den »Meister«..»in jedem Jahr, an allen Orten ...
unermüdlich ...

Und doch - und das ist mein Übel,
meine Schmach, meine Verzweiflung,
mein Elend, mein Kummer, mein Zorn,
meine Wut und auch: immer wieder
meine Hoffnung:

begonnen am 9. 11. 1991 - sic!

* * * * *

 
HIRN, MASCHINE UND POESIE
THE CRAZY WORLD OF FJK
Ein neues altes Tagebuch  -  1993 ff.
Auch:
Notizen zu einer Neuen Fröhlichen Wissenschaft


Ich werde nicht umhin könne, auch das aufzuschreiben, was mir gefällt ... Wenn ich lese stoße ich naturgemäß auf Wörter und Sätze, die ich behalten will ... Also sollen sie auch einen Platz in meinem Tagebuch finden.

Zitate zum Thema:

Sie war blond, und ich wette, daß sich jedesmal, wenn sie an einem Friedhof vorüberkam, die Leichen aufsetzten und ihr nachpfiffen. Später heiratete Chester Chain den blonden Traum und macht in Kalifornien eine kleine Tankstelle auf. Noch später, nachdem ein paar alte Freunde dafür sorgten, daß die kleine Tankstelle in die Luft flog, ein kleines Restaurant. »Es braucht ja kein kunstvoller Bau zu sein. Wir könnten Essen im Freien servieren. Gegrilltes, Hühnchen, Steaks, Rippenstückchen, so wie wir sie selber gern essen, mit Salat. (James Hadley Chase / Uwe Nettelbeck)

Im Mai 68 stimmte ich für den Sozialismus auf den Barrikaden, indem ich am Generalstreik teilnahm xxxxxx die Geschichte des Menschen ist die seiner Repression xxxxxx die Wiederkehr dessen was unterdrückt wurde bildet die unterirdische und tabuxxxxxx Geschichte der Zivilisation xxxxxx die Erforschung dieser Geschichte xxxhüllt nicht nur das Geheimnis des Individuums, sondern auch das der Zivilisation xxxxxx es gibt keine neutrale Wissenschaft die Wissenschaftler xxxxxx es gibt keine neutrale Wissenschaft - Die Wissenschafler kollaborierten mit Hitler Johnson xxxxxx Es gibt keine neutrale Wissenschaft. Die Wissenschaftler kollaborierten mit Hitler Johnson Stalin de Gaulle xxxxxx  (Herbert Linder / Jean-Luc Godard)

Verlust an Würde. - Das Nachdenken ist um all seine Würde der Form gekommen, man hat das Zeremoniell und die feierliche Gebärde des Nachdenkens zum Gespött gemacht und würde einen weisen Mann alten Stils nicht mehr aushalten. Wir denken zu rasch, und unterwegs, mitten im Gehen, mitten in Geschäften aller Art, selbst wenn wir an das Ernsthafteste denken; wir brauchen wenig Vorbereitung, selbst wenig Stille - es ist als ob wir eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopf herumtrügen, welche selbst unter den ungünstigsten Umständen noch arbeitet. Ehemals sah man es jedem an, daß er einmal denken wollte - es war wohl die Ausnahme! -, daß er jetzt weiser werden wollte und sich auf einen Gedanken gefaßt machte: man zog ein Gesicht dazu wie zu einem Gebet und hielt den Schritt an; ja man stand stundenlang auf der Straße still, wenn der Gedanke »kam« auf einem oder auf zwei Beinen. So war es »der Sache würdig«. (Friedrich Nietzsche)

Wenn wir einen Apfel sehen, woher wissen wir dann, daß es ein Apfel ist? Wie erkenne wir einen Freund - oder woher wissen wir überhaupt, daß wir einen Menschen sehen? Wie erkennen wir Objekte? Die einfachste Art, etwas zu erkennen, ist, sich zu vergewissern, ob es bestimmte Eigenschaften besitzt. Um einen Apfel zu erkennen, mag es in vielen Fällen ausreichen, nach etwas Ausschau zu halten, das rot UND rund UND apfelgroß ist. Zu diesem Zweck brauchen wir eine Art von Agenten, die merken, wann alle drei Bedingungen zugleich erfüllt sind.  (Marvin Minsky)

die kybernetik bietet erstmals eine lösung der durch den gang der geschichte aufgeworfenen probleme: begründete hoffnung, daß der mensch von seiner auseinandersetzung mit der umwelt befreit werden könne. ein teil dieser auseinandersetzung wird schon in absehbarer zeit den computern übergeben werden können (ist ihnen de facto bereits überlassen); schließlich aber werden sie forschung und erkenntnis vollständig in eigenregie übernehmen, und damit der menschheit endlich jenes schmarotzertum ermöglichen, das bisher nur dem einzelnen durch planvollen opportunismus offenstand - jedoch 'auf kosten der anderen', und daher entweder im staat selbst untermauert oder duch ihn verfemt, in beiden fällen nicht ohne opfer und risiken.
ob aber ein schlaraffenland gestalt annehmen kann, ob wirklich zahlreiche parasiten die leistungen automatischer forschungsanlagen und fabriken wie die von wirtstieren geniessen werden können, wird auch davon abhängen, ob der pragmatismus auf der höhe seiner entwicklung einen salto zu machen imstande sein wird; ob jede die geschichte der wissenschaften und mithin unseres weltbildes garantierende 'wissenschaftliche methode' aufgelöst werden kann, oder ob sie unserem erleben und unserem leben das ende bereiten soll, welches sie als verfassung der welt bereit hält.
  (Oswald Wiener)

Was bedeutet der von mir in die Ästhetik eingeführte Gegensatz/Begriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen? - Der apollinische Rausch hält vor allem das Auge erregt, so daß es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesamte Affekt/System erregt und gesteigert: so daß es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurierens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit nicht zu reagieren (- ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgendeine Suggestion nicht zu verstehen, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und erratenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mitteilungs/Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig. - Musik, wie wir sie heute verstehen, ist gleichfalls eine Gesamt/Erregung und /Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks/Welt des Affekts, ein bloßes Residuum des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor allem den Muskelsinn stillgestellt (relativ wenigstens: denn in einem gewissen Grade redet doch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): do daß der Mensch nicht mehr alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist das der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen. (Friedrich Nietzsche)

Der Blick und sein Objekt
Das Charakteristische der sogenannten fortschrittlichen Gesellschaften ist dies: sie konsumieren heute Bilder und nicht mehr wie die früheren Gesellschaften, Glaubensinhalte; sie sind daher liberaler, weniger fanatisch, dafür aber auch »falscher« weniger authentisch - was sich in unserem heute herrschenden Bewußtsein als Eingeständnis einer Grundstimmung von Überdruß und Langeweile äußert, als ob das Bild, indem es allgegenwärtig wird, eine Welt ohne Differenz (eine indifferente Welt) erzeugte, in der sich nur noch» hie und da, der Schrei der Anarchismen, Marginalismen und Individualismen erheben kann: Schaffen wir die Bilder ab, retten wir das unmittelbare (unvermittelte) VERLANGEN!  (Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main 1985, Seite 130)

Sektionsbefund: Bei der Leiche handelt es sich um eine Weiße, weiblich. Muskeltonus läßt Rückschlüsse auf ein Alter zwischen sechszehn und dreißig Jahren zu. Der Leichnam liegt vor in zwei Hälften. Schnittstelle etwa in der Nabelgegend. Zur oberen Hälfte: Der Kopf ist intakt, mit stark eingedrückten Schädelfrakturen. Gesichtszüge stark unkenntlich gemacht durch massive subkutane Blutungen. Hämatome und Ödeme. Nasenbein stark nach unten verschoben. Glatter Einriß an beiden Mundwinkeln über die Kaumuskeln hinweg, erstrecken sich vom Kieferngelenk aufwärts bis zu beiden Ohrläppchen. Keine sichtbaren Anzeichen für Halsverletzungen. Multiple Rißwunden von Thorax vorn, konzentriet auf beide Brüste. Rechte Brust fast ganz vom Thorax abgetrennt. Untersuchung der oberen Hälfte der Bauchhöhle zeigt irgendwo flüssiges Blut. Gedärme, Leber und Milz entfernt. (...) Fehlenden Anzeichen für Hypertrophie lassen darauf schließen, daß zur Todeszeit keine Schwangerschaft vorgelegen hat. (...) Untersuchung der unteren Hälfte des Leichnams: er zeigt einen senkrechten Schnitt vom Nabel zur Schmambeinfuge, Gedärme, Uterus, Ovarien und Rektum entfernt, multiple Einrisse sowohl an der vorderen wie der hinteren Seite der Bauchhöhle. Große dreieckige Fleischwunde auf linkem Schenkel. (...) Beide Beide am Knie gebrochen und abheilende, leichte Peitschenstriemen oberhalb des Rückenwirbels und an den Schultern. Schürfwunden an beiden Fußknöcheln.  (James Elleroy: Die schwarze Dahlie, Frankfurt/Main - Berlin, 3. Auflage, 1991 (= Ullstein Buch Nr. 10654), Seite 121-122)
Festgehalten hier in einem alltäglichen Angst- und Todesuniversum läßt nichts so sehr aufhorchen als Schüsse, Morde, Verstümmlungen, und so öffnet sich immer wieder zwischen zwei Augenblicken diese Phantomwelt aus Gewalt, Tod und Geld mit farblosen Stimmen, blockieren das Nervensystem, der Stoffwechsel kontrolliert von verwischten, rasch vorüberhuschenden Bildern ausbrennender Wagen und leicht fallender imaginärer Körper in der Luft an der gläsernen Front eines Bürohauses entlang, und immer noch einmal läuft dieser flackrige alte Film lautlos ab mit dem Geruch verschmorten Fleisches auf einem leeren Parkplatz made in USA, »Brauchst bloß'n Kanister Benzin, ja, und dann brennt er runter wie eine alte Matratze, ist ein komischer Anblick, paß nur auf, daß'de dir nicht die Augenbrauen versengst, Mann, und dann ab«, eine lässige Geschichte, nebenbei gehört, während man einen Comic liest. »Du erinnerst dich gut, Schläge auf die Hoden« in einem weichen, röchelnden Morgenlicht, ausgetrocknete sommerlich staubige Luft und eine prima sitzende Frisur, das angenehme Rascheln großer Scheine überzieht wie eine schmierige, brüchige Kruste den Körper hinter der Tür, die gar nicht da ist. »Ich bin ganz krank« und ranziger Atem aus einem billigen geöffneten Koffer in einem Hotelzimmer, kannst du in sehen? Zusammengeschlagen, daß du das Gesicht für sonstwas hälst und geronnen in einer kleinen Blutblase Zeit, »Was biste? Krank? Ich glaub, hier läuft was anderes. Schon mal'n Fisch gesehen, der an der Oberfläche hängt? So hängste an der Oberfläche eines grünen Schweins« ja, und der Blick geht auf eine schöne gepflegte Rasenfläche.  (Rolf Dieter Brinkmann: Fortsetzung, in: Der Film in Worten, Reinbek 1982, Seite 25)

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ein Ziehen in der Leistengegend
grünes Gesicht
nichts gegen den schönen
Körper der SCHWARZEN DAHLIE
bevor er den Bullen
in die Hände fiel
ein leichtes Kribbeln in den Handflächen
was wäre nicht alles
möglich gewesen - so
bleibt nur: Bilder
im Hirn des kranken
Dichters ...

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Langsam, ganz langsam mit dem Schreiben beginnen - keine übereilten Formulierungen festschreiben ... Versuchen, die Selbstbeobachten zu weit zu treiben ... Nach Möglichkeit keine Theorie entwickeln  - zumindest nicht bevor es möglich ist, das eigene Bewußtsein mit einem anderen zusammenzuschließen. Eher den Versuch anstellen, alle möglichen Theorien zu sprengen, aufzulösen, aufzudröseln zu einem nicht mehr entwirrbaren Chaos von Fäden, die überalle und nirgend hinführen. Insofern ein dionysischer Mensch, insofern ein Chamäleon. In alle möglichen Häute schlüpfen können und sich dabei in der eigenen doch recht wohl fühlen: also auch eine Art von Schmarotzertum. Günstig. Obs auch günstig für andere ist - schwer zu beurteilen, aber auch wohl kaum von übergeordnetem Interessen. Nomadisieren als Grundhaltung und -überzeugung.

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Tagebuch Januar 1993

Warum habe ich heute (1.1.1993) hier - an diesem ungastlichen, windigen und kalten Ort (Bahnhofsvorplatz - Münster) auf einmal den unwiderstehlichen Drang, abzuhauen ... irgendwohin .. wo NICHTS und NIEMAND auch nur irgendeine Forderung an mich stellt ... ??? Es gibt doch so viele, die das machen: verschwinden ... und niemand hört mehr von ihnen ... keiner weiß, ob und wo und wie sie leben ... Aber: feige wie ich bin, werde ich um 12.44 Uhr in den Zug nach Augsburg steigen, der mich (wie immer und wie zu erwarten) nach Augsburg zurückbringen wird ...

Gefangen in den eigenen, weil doch und immer wieder von mir selbst (selber?) konstruierten Verhältnissen, kann ich nicht anders als ... Die Unmöglichkeit, ein nun wirklich ganz anderes Leben zu führen, scheint immer wieder der Mangel meiner Gattung zu sein ...

Ort: IC »Drachenfels

keine Worte ... keine Bilder ... keine Musik ... kein Duft
Abgestiegen in die Tiefen ...
Auferstanden in den Höhen ...
Lust empfunden und so manches andere ...
Bilder gesehen, die sonst niemand gesehen ...
Verfluchte Bilderwelt ... !!!

Eigentlich sollte Langeweile doch ein gutes Zeichen sein: wer sich langweilt, gibt damit kund zu wissen, daß ihn das, was um ihn herum geschieht, nichts mehr angeht. Allerdings kann ich das von mir nicht behaupten. Interessiert an dem, was geschieht - und nicht nur in meiner unmittelbaren Nähe, sondern auch - naja - global ... Schließlich bin ich ein Mensch ??!! ... oder ??? ==> Was muß ich tun, damit es mit mir aufwärts geht und nicht rückwärts? Progression statt Regression? ==> Ich weiß es nicht! Wenn's ein Mittel gäbe, ich wüßte es mir zu verschaffen ... !

Die wahrscheinlich durch den Alkohol verursachten Lähmungen im Hirn - die schon fast totale Antriebsschwäche läßt mich nur dumpf dasitzen und zuschauen. Es kommt nichts aber nun auch wirklich nicht zustande. Ich halte mich gerade so über Wasser. Ja - verdammt noch mal - ich möchte nun endlich ein normales Leben führen können und dürfen! Statt desse beschäftige ich mich, daß heißt mein Hirn, mit vielfach sinnlosen Tätigkeiten. Spiele »Solitär Stadt erledigen, kleinere Reperaturen veranlassen ... NICHTS!!!

Aber ... was nun wirklich in diesem Jahr geschehen soll: das TAGEBUCH soll beginnen und konsequent fortgeführt werden. Vielleicht hilft es mir, wieder ein klein wenig auf die Reihe zu kommen. Das Bekenntnis der kleinen Lächerlichkeiten und die Erkenntnis, daß diese zu bewältigen sind, können dabei helfen.  * Wenn nur die Hirnausfälle nicht wären, wie gesagt: diese Lähmungen ...

Außerdem: wichtig: das TAGEBUCH-schreiben nicht nur auf die depressiven Momente beschränken, in denen mein Feind Alkohol die Regentschaft übernommen hat und ich nur trübsinnig rumsitze und mir leid tue blöd aus der Wäsche glotze und überhaupt nichts mehr kapiere ... In den 'hellen' Momenten die vielleicht wichtigeren Wörter und Sätze auf dem Papier (HaHa: auf der 'Festplatte') festnageln ... Meine depressive Grundstruktur wird nicht siegen ... Ich lege mir eine neue zu!

Zur Technik:  Auf Zetteln, irgendwie und irgendwo schreiben ... diese Notizen dann in diesen fortlaufenden Text übertragen ... Kugelschreiber / Bleistift und Computer gehen so Hand in Hand ... Na, wenn das keine glückliche Vermählung von konservativem und subjektivem Schreiben ist ... !!!

So ... nach einer kleinen Übung an der Maschine hab' ich's `rausgefunden, wie ich meinen Text in dem doch (vielleicht) ein wenig ansprechenderen Blocksatz schreiben kann ... So wird alles viel endgültiger ... geschrieben & gedruckt ... und kein Schwein kann sagen: das ist doch nur hingeschmieretes Gekritzel ...

So ... jetzt reichts für heute ... eine Seite langt ... !!

(9.1.1993)

 

Er redet sich noch um den Verstand. - Und so tun bzw. vortäuschen als ob, als ob es wirklich schon immer so gewesen sei. Sich verströmen in Uralt-Metaphern. Was so manche Leute in den Mund nehmen ... Ich will ja nicht über die Gewohnheiten des Essens reden ... Das ist nicht mein Geschäft ... mir ist eh schon schlecht genug ... All the lonely People ... Ich will mich nun aussprechen und all den Ballast loswerden, der sich in meinen Gedärmen angehäuft hat in den Jahren der Erziehung und Dressur ... Einen Verwicklungsroman schreiben mit lauter Kalauern drin ... Schon größere Geister als unsere »Literaturpäpste« haben festgestellt, daß nichts mehr geht bzw. alles und das ist gut so: Die Prosakunst hat jetzt einen solchen Grad an meschanischer Perfektion erreicht, daß man die Romanschreiber nur noch danach auseinanderhalten kann, ob sie über Bergarbeiter in Butte, Kulis in China, Juden in der Bronx oder Börsenmakler auf Long Island schreiben, oder was es sonst ist; daß sämtliche Frauen und die meisten Männer genau dasselbe schreiben oder zumindest zwischen einem halben Dutzend standarisierter Rezepte wählen. (Raymond Chandler) ... und das ist gut so ... Und wenn ich mich umschaue, muß ich zustimmen ... Und ich ziehe den Schluß, daß der Inhalt beliebig ... Und ich greif nach dem erstbesten Stoff, der sich mir wie eine 'verwelkte Hure' (o leck!) anbietet ... bleibe dran und knete rum ... Es ist jetzt der 25. Januar 1993; 17.24 Uhr ... und nix mit Good Days Sunshine! ... und es ist schön, daß sich die Widersprüche nicht lösen und wir im Allgemeinen verbleiben und daß keine Regel mehr gilt und wir so wie jetzt unendlich weitermachen könnten wenn wir den Atem hätten aber wir haben ihn nicht wir müssen irgendwann einmal den Griffel beiseite legen und uns zur Ruhe begeben aber schön ists doch wenn wir die Sprache nackt vor uns liegen haben uns über sie beugen und unsere Lust an ihr haben (uns an ihr verlustieren?) verdammt noch mal jetzt kann ich aber wirklich nichts mehr ernst nehmen und wenn ich jetzt die Musik der Beatles nicht hören würde würde würde würde würde ... Es muß krachen im Hirn wenn die Worte aufeinanderstoßen sich verkeilen und sich nicht mehr auseinanderlösen lassen ... Es darf keine Konzepte mehr geben alles muß gesprengt werden ... Ich weiß ja auch nicht wohin das führen wird aber auf jeden Fall wird es wegführen und darauf und nur darauf kommt es jetzt an ... Es muß (müsste?) ein unendlicher nicht zu einem Ende zu bringender Text sein der in alle Galxien ausströmt sich verströmt ... ein Ende kann immer nur vorgetäuscht sein ... das ist das Ende vom Anfang des Endes vom Anfang ... und kein Vogel sitzt zwitschern auf meiner Schulter und kein Wasser kühlt mein Hirn ... das neue Grün der Blätter draußen vor dem Fenster läßt auf sich warten ...

Schreiben ohne Buchstaben aufs Papier zu malen: keine SchriftZeichen. Literatur, die sich im LEBEN ausdrückt, in den Körperbewegungen, im Gehen ... Kein Eifer, sondern ein Vorübergehen, ein Hauch ein Streifen, ein Bewegtwerden von etwas, das nicht festgehalten wird. Deshalb die längeren Unterbrechungen in der Fortführung des Textes ohne Ende. Text ohne Ende. Fortschreibung. Keine Bücher. Nur ein Buch. Alle Texte sind Teil eines Buches. Alle Bücher sind Teil eines Buches in mehreren Fortsetzungen ...
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 


VERSUCH ÜBER GEDICHTE
1. Fassung

Beginnen wir mit einem Paradoxon: »Ich bin ein junger Autor« und wer hier lacht hat nichts begriffen vom Sprachgebrauch, der in diesem Geschäft im wahrsten Sinne des Wortes herrscht. Dabei habe ich immer schon Gedichte geschrieben. Ob es übertriebener Skrupel war oder wirkliches Unvermögen: die meisten Produkte sind vernichtet. Ganz sicher mitgespielt an dem Zustand, daß mir nur (relativ) wenige eigene Texte zugänglich sind, hat die Erfahrung, daß Kommunikation über das Medium Lyrik nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße möglich zu sein scheint. Also bin ich ein junger Autor, da ich in nur sehr begrenztem Maße veröffentlicht bin.

Radieschen züchten, mit dem Auto durch die Waschanlage fahren, in der Sonne liegen und in der Nase bohren - all dies sind lebenswichtigere und befriedigendere Beschäftigungen als sich hinzusetzen und Verse zu schmieden. (Fast) nutzlos ist es, Worte aneinanderzureihen, damit ein anderer (WER?) sie vielleicht mit Verstand liest. Und doch! Und doch sitzen Tausende vor einem leeren Blatt Papier und versuchen, sich selbst und dem was sie angeht einen Ausdruck zu verschaffen. Es muß also was dran sein!

Alles hat seine Zeit. - Und irgendwann kommt auch der Tag, an dem man sich Gedanken machen muß über dieses Tun. Ich kann keine Theorie entwerfen; ich kann mein Thema nur langsam, sehr langsam einzukreisen versuchen. Es werden viele (Gedanken-)Splitter unverbunden nebeneinander, hintereinander stehenbleiben müssen. Es käme mir wie ein Verrat vor, sie, die einander widerstreben, zu verknüpfen. Daraus folgt auch, wenn ich nun diese Arbeit einmal beginne, daß das, was folgt, auf immer unvollendbar sein wird, immer von neuem fortgeschrieben werden muß. Ein Ende, eine Erlösung wird es nicht geben.

1

In Momenten der Sprachlosigkeit zerfallen die Worte im Mund. Sätze werden nicht zu Ende geführt, Zusammenhänge verschwinden im Nebel. Und doch ist da der Drang zu reden. Über das Schweigen zu schweigen (wie es viele tun) ist sinnlos, das Unsagbare zu sagen ist Idiotie. Ich rede.

Je elementarer, desto unsinniger, desto mißverständlicher, desto falscher. Was ist der Preis?

Es ist wie im Märchen von Hase und Igel: die Lüge ist immer schon da und gewinnt auch noch einen Preis. Was ist der Preis? - Die Lächerlichkeit des Erfolges.

So steht denn am Anfang die nie verstandene Liebe. Denn was ist mehr dem Mißverstehen ausgesetzt als sie... Es bleibt nur die Hoffnung, daß die Sprache nicht ganz versagt...

Und dann die Orte ... Städte ... Landschaften ... Länder ... Von Worten umringt, könnten sie (vielleicht / im Glücksfall) bewohnbar werden. Wir könnten uns einrichten, das Leben lebensmöglich machen, den Tod ruhig erwarten ... satt und fett werden in unseren Gedanken und Gedärmen ...

Es gibt den Beruf, die Politik, das Verbrechen, die Straße, den Himmel, die Geschichte. Es gibt Gefühle und Erkenntnisse (Ideen) ... Und es gibt (immer wieder) die Liebe ... die nie verstandene...

Es gibt das schon einmal Gedachte und das noch nie Gelebte. Es gibt unendlich viel zu zertrümmern; es gibt unendlich viel Schutt wegzuräumen ...

Die Schrift an der Wand ist entziffert; diese viel zitierte Schrift; aber das macht nichts ... Es ist alles gesagt, es bleiben nur die Wiederholungen: so lange bis das Verstandene sich umwandelt in die Tat. Wir können nur auswählen und weitergeben ...

Was aber bleibt? - Jetzt, wo jeglicher Bestand aufgelöst wird in seine Bestandtteile und zer-streut wird in alle vier Richtungen ... ?

Es gibt keine Lösungen mehr. Die Dichter schweigen schon lange. Die Propheten haben umgeschult und sind Journalisten geworden. Die Wissenschaft hat abgewirtschaftet ... Nun sind wir also am Ende und es ist die Frage, ob wir zu einem neuen Anfang finden (finden können) ...

So bin ich hier, füge den Materialalben etwas hinzu, sehe mir eine weitere sterbende europäische Hauptstadt an, mache Notizen, sammele, - es gibt hier seltsame lichte Himmel, abends kalkweiße Monde zwischen schwarzen großen Pflanzen, Bäume. - Ich sehe mir das Licht an, daß ich lange Zeit vermißt habe, wie lange das anhält? Weiß nicht. - Ich denke, nach der jahrhundertelang betriebenen Entleerung aller Inhalte, passiert jetzt überall die rasende Entleerung auch aller Formen - gut so, denke ich, das bringt jeden in die Notwendigkeit, seine eigenen Inhalte und Formen zu bringen, bringen zu müssen, danach zu suchen. (Rolf Dieter Brinkmann)

Aber auch da: bei den eigenen 'neuen' Formen und Inhalten ist kein Stehenbleiben möglich; auch hier muß zertrümmert werden: jeder Inhalt, jede Form muß in sich einen Selbstzerstörungssprengsatz tragen, muß vorläufig sein ...

Was (vielleicht) noch möglich ist: Fragmente, nicht zuende Geschriebenes; Lücken, die nicht ausgefüllt werden; Momentaufnahmen; Photos; Epiphanien ... das (auch optisch) nicht / oder nur schwer / zusammenfügbare Gedicht ...

... die Worte zerfallen im Mund ...

2

Ich stelle mir keinen Leser vor. Es gibt ihn nicht. Niemand schreibt für Niemand. Was sich ein Autor (jeder Autor) bei einem Satz gedacht hat, ist scheißegal. Ich werde es ja doch nicht erfahren. Was ich kann ist: versuchen, mich hineinzuversetzen in das Geschriebene, um zu sehen: was geschieht in mir? Gelingen mir neue Erfahrungen / Erkenntnisse? Sie könn(t)en mir gelingen, wenn ich neue Formen finde, die meine Fähigkeit zu verstehen verbessern.

Jedes Verständnis ist ein Mißverständnis, jede Form ist eine Lüge. Es gibt keine Zusammenhänge. Wenn du dich entschließt, ein Wort neben das andere zu setzen, dann suggerierst du, daß es einen Sinn gibt, der sich von selbst - oder mit Mühe - erschließen läßt. Es paßt nichts zusammen - und das ist gut so. Und du, du alter Tölpel, siehst immer wieder Zusammenhänge dort, wo sie nun wirklich nicht sind, weil es sie nie und nirgendwo gab und gibt. Es gibt und wird geben nur das Vereinzelte, das Isolierte, das Fragment. Nur im Zusammenstoß der isolierten Wörter geschieht, - wenn überhaupt - Literatur. Wenn ich FORM ablehne, wie kann ich reden ... ist doch Sprache immer auch Form ... wie kann ich weiterschreiben, wenn ich weiß, daß ich lüge? Wie kann ich Qualität erreichen, wenn ich nicht in der Lage bin, das Bestehende zu überwinden oder wenigstens durch das Schreiben so zu kritisieren, daß sich interessante neue Aspekte auftun? Wie gelingt es mir, den alten Formen und Inhalten zu entgehen?

Wenn ich in einem Biergarten sitze, vor mir das Bier, links vorn die Tafel mit den (alltäglichen) Angeboten, etwas weiter rechts eine (unheimlich langbeinige) Blondine, hinter mir ein kläffender Köter, in meiner Hand ein Roman. Ich lese zufällig wie in einem Zwinger ein Dackel (in einem Sack) erschlagen wird, da kommt der Kellner und bringt mir ne Currywurst... and so on... - Wie soll da ein (um einmal mit dem von mir wenig ge-schätzten Handke zu reden) 'ein die Einheit begehrendes Streben' möglich sein... Alle diese (auch und vor allem Romanschriftsteller) Einheitsideologen sind doch gottverdammte Lügner... Es gibt nur das FRAGMENTARISCHE... Die Einheit ist ein metaphysisches Gespenst und gehört in den Bereich der Priester...  Sie kann ganz nützlich sein, wenns einem schlecht geht und man ein schönes Gefühl haben möchte... also aus therapeutischen Gründen... Da aber der Schriftsteller kein Therapeut oder Priester (vgl. Arno Schmidt) ist, kann er die Welt nur fragmentarisch darstellen; oder: als epischen Wassersturz, der von Schwelle zu Schwelle schäumt als Beispiel überlegenen Zerfalls, aber doch genau so unten ankommt wie ol' man river...

...und immer wieder das gleiche Problem: daß das, was da auf dem Papier erscheint nicht das ist, was ich mir vorgestellt habe. Die Differenz ist tödlich. Nie und nimmer scheint sie aufhebbar, ist ewig und allgegenwärtig. In seltenen Glücksmomenten scheint sie aufgehoben, um später um so gewichtiger zu erscheinen. Die Selbsttäuschung nimmt manchmal bedrohliche Ausmaße an und bringt mich dazu, zu glauben, jetzt hätte ich es geschafft, jetzt wäre es mir gelungen, dem Bild in meinem Kopf das richtige Wort zu geben und dieses Wort in die richtige Form zu bringen. - Wie soll auf dieser Basis eine Kommunikation zwischen mir und einem Leser möglich werden?

3

Das Bewußtsein, am Ende einer Epoche (der Epoche der Literatur) zu stehen, weckt das Bedürfnis, die Dinge, die für die Arbeit mit und am Kunstwerk (hier: am Gedicht) zu ordnen. Es gibt kein Bewußtsein von Literatur ohne Kritik, resp. ohne Reflexion über die Arbeit.

Dem Dichter stehen (immer noch) zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, ein Kunstwerk zu schaffen: aus der Kraft seines eigenen Ichs (Stil) oder aus den bereits vorhandenen (kulturellen, literarischen Möglichkeiten (Manier). Wobei einschränkend gesagt werden muß, daß Stil heute, nach Ge- und Verbrauch aller vorhandenen Möglichkeiten wohl kaum noch großartige Möglichkeiten bietet, Neues zu schaffen. Ich will hier nicht den überstrapazierten und ausgelutschten Begriff der »Postmoderne« gebrauchen, dennoch: es scheint keine andere Möglichkeit zu geben, als mit dem bereits vorhandenen Material auszukommen (=Manier) und auf Neues zu verzichten. Manier muß nicht gering geschätzt werden, ist aber in bestimmten Situationen weniger entscheidend.

In sogenannten »äußersten Situationen« ist Stil wichtiger. Also Kraft statt Kultur; wobei diese Kraft selbstverständlich die Kultur als (Stil-)Mittel einsetzen kann.

Ein Dichter, der nur bereits vorhandene Formen benutzt, auch wenn er sie bis zur Meisterschaft vorantreibt und beherrscht, ist von wenig Interesse.Ein solcher Poet ist nur ein fleißiger Arbeiter, aber kein originärer Kopf. Er ist ein Sammler, kein Genie.

Das alles ist nicht besonders aufregend und neu und man muß sich auch nicht unbedingt mit diesen Dingen beschäftigen. Ich würd's auch nicht tun, wenn nicht 90% der aktuellen Produktion aus diesen Elaboraten bestünde. Man muß sich durch den Dschungel arbeiten, um nach Eldorado zu gelangen.

4

Was ist ein Dichter?

Was haben wir zuerst? Einen Menschen, der Gedichte schreibt. Was ist das: Ein Mensch, der Gedichte schreibt? Erstens: ein Wesen, das eine ganz bestimmte Konstitution besitzt, und sich verhält. Zweitens: ein Wesen, das ganz bestimmte Verhaltensweisen besitzt, gebend - nehmend, es wird durch sein Verhalten geprägt und prägt sein Verhalten. Es gibt diesem Verhalten, das sich konstitutionell, materiell, ideell oder in sonstiger Weise manifestiert, artikulierten Ausdruck, und zwar in ganz bestimmter und vom Normalmenschen unterschiedlicher Weise.

Ich sagte, ein Wesen, das sich verhält, da ist es vorbei mit dem Spuk vom allein träumen und keine Beziehung haben. Vorbei mit der Rührung, dass man sogar intim und im Bett keinen Kontakt habe, niemals gespürt die Erregung des andern, niemals in der gleichen Sekunde den gleichen Gedanken gehabt wie der andere. Man kann nur sagen: Verkümmerung oder Pappe. Eine durchaus anatomische und erklärbare Erscheinung. Aber kein Grund für Zeitalteranalysen vom Standpunkt der Verkümmerung, keine Veranlassung, Dinosauriergewohnheiten als letzte Erkenntnis und Manifestation über Dichtung auszugiessen. Der Kontaklose als Ideal einer verarmenden und ratlosen Generation. (Rainer Maria Gerhardt)

Der Dichter also als ein Wesen, das sich verhält, nicht nur gegen sich selbst, sondern vor allem gegenüber seiner Umwelt. Anders als der hier angesprochene Gottfried Benn, dessen Gedichte um nichts als den Autor kreisen, ist der Poet ein soziales Wesen. Benn ist (immer noch) der Prototyp des unpolitischen Dichters, der in seinem solipsistischen Nihilismus erstarrt ist. Ziel ist also der Ausgang des Poeten aus seiner selbstverschuldeten Isolation, die sich zwangsläufig aus dem Benn' schen Nihilismus ergibt, und der Übergang in das Gespräch.

Das spezifisch Politische liegt allerdings nicht nur in den Inhal-ten, sondern vor allem in der Form, im Machen. Es geht um neue Möglichkeiten des Sehens, um eine Änderung der Wahrnehmungsstrukturen. Es geht um Genauigkeit, Klarheit (was immer das sein mag) und Sauberkeit der Mittel und Methoden; oder - mit anderen Worten: Genauigkeit kommt immer der Schönheit zugute und richtiges Denken dem zarten Gefühl (David Hume).

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Niemand kann zu seinem Glück gezwungen werden; niemand kann dazu gezwungen werden, alle Möglichkeiten, die in reicher und vielfältiger Weise in ihm stecken, zu entfalten. Ein sich selbst Beschränkungen auferlegender Dichter kann nur langweilige Texte schaffen. Es muß immer wieder diese unendliche Vielfalt der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten betont und vom Gedicht die gleiche Vielfalt gefordert werden. Das bedeutet nichts anderes als das freie und durch nichts eingeschränkte Gedicht. So reich wie der Mensch, so reich sollte auch das ihn beschreibende und betreffende Gedicht sein.

Poesie muß also befreit werden von allen Einschränkungen, sei es formaler oder inhaltlicher Art. Der freie Vers, wie wir ihn z.B. von Charles Olson kennen, scheint so auch heute noch die einzige Möglichkeit, dieser Sicht von Mensch und Gedicht gerecht zu werden.

Freiheit heißt hier: die leere Seite. Auf ihr breitet sich das Gedicht aus. Wie sich das Gedicht auf dem Blatt ausbreitet wird von ihm selbst bestimmt. Die weißen Stellen sind ebenso wichtig für die Gesamtaussage des Textes wie die schwarzen. Die traditionelle Strophenform ist eine Sache, die Anordnung des neuen Verses eine andere. In der Substanz allerdings gibt es keinen Unterschied. Das Gedicht 'verläuft' auf der Seite, gibt dem Wort die Bewegung, von der das Gedicht getragen wird. Ausgangspunkt dieser Bewegung ist der Impuls (Ding, Person, Erleben, Bild, Geschehen, etc. etc. etc.), der den SchreibProzeß in Gang setzt. Die SchreibArbeit besteht darin, den Text so auf der Seite zu ordnen, daß der Ausgangsimpuls sichtbar bleibt und die Lektüre zu Ergebnissen führt, die der Verfasser zwar nicht vorhersehen kann, die aber doch (zumindest teilweise) von ihm mitbestimmt werden. Ausgangspunkt und Ergebnis bleiben unsichtbar. Sichtbar wird allein der Text - das Mittelstück eines nicht endenwollenden Prozesses.

Natürlich gibt es Differenzen zwischen den einzelnen Stationen, aber es gibt auch den Kern, das Unveränderbare, das, was im auslösenden Gegenstand, im Gedicht selbst und im Leser im Moment der Lektüre vorhanden ist. Dieser Kern ist gleichsam jeweils von einer unterschiedlichen Hülle umgeben. Welche Unterschiede diese Stationen kennzeichnen, bleibt der Interpretation / Untersuchung des einzelnen Gedichtes vorbehalten; es gibt keine unumstößlichen, unveränderlichen Unterschiede.

Die Wirklichkeit ist nicht der Grammatik unterworfen: Folglich ist auch das Gedicht von ihr befreit. Und ebenso wie die starren Versfüße der alten Zeile werden die Regeln der Syntax gebrochen. Neue, ungeahnte Möglichkeiten ergeben sich. Wie weit der Dichter bei dieser Ausweitung gehen kann und darf wird nicht festgelegt. Es gibt nur die Wahrheit des Gedichtes und die Schönheit des Bildes in der Lektüre des Lesers. Wie der Dichter die neuen Möglichkeiten einsetzt, ist nicht willkürlich, bleibt nicht ihm überlassen, es ist abhängig vom Objekt seines Schaffens.

Das Objekt in der Realität außerhalb des Gedichts wird zur Realität selbst und zwar durch den Dichter, der sowohl Medium wie das Übertragene (die 'Botschaft') selbst ist. Der Mensch, der sich selbst und damit seine UmWelt so darstellt, trennt nicht mehr zwischen Objekt und Subjekt, und Begriffe wie Objektivismus und Subjektivismus verlieren ihren Sinn. Das Material des Gedichts ist (sozusagen) das Subjekt des Dichters als Objekt, allen anderen Objekten gleichgestellt.

6

Aber vielleicht ist dies alles gar nicht so wichtig; vieleicht findet Poesie heute ganz woanders statt: dort wo sie nicht gesucht wird von den Zuständigen, den Verwaltern und Sachkundigen; z.B. in der RockMusik. Sie kann und wird dort sogar mehr leisten als das, was heute in den Feuilletons als Poesie 'gehandelt' wird.

Vielleicht (vielleicht sogar wahrscheinlich) liegt hier die einzige Chance...

Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Mag sein, daß deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen. (Rolf Dieter Brinkmann)
 
 


EINIGE BEMERKUNGEN ZU OSWALD WIENER
(Fragmentarischer Essay)

ich bin kein künstler
ich bin kein athlet
ich bin eine inkarnation
die keiner versteht

- oswald wiener -

Über die Geschichte der 'Wiener Gruppe' ist viel geschrieben worden. Es braucht hier nicht wiederholt zu werden. Kurzgefaßte Lebensläufe des Autors finden sich in jedem besseren Nachschlagewerk. Interessant ist dabei die Beobachtung, daß die Autoren dieser Artikel häufig (zum Teil amüsiert, zumeist allerdings verständnislos) besonders darauf hinweisen, daß Oswald Wiener seinen Wohnsitz in Dawson City, Kanada, genommen hat. - Wie kann denn auch ein Autor, der wie vielleicht kein anderer neue Denkströmungen registriert und beschrieben hat, sich in die Wildnis zurückziehen?!

Ich bin nach Kanada gekommen, weil mich die Banalität der öffentlichen Diskussion in den alten Zentren lähmt, das heißt, weil ich zu schwach bin, das Blasenwerfen zu ignorieren. (...) Mitteleuropa ist mir uninteressant, weil dort meine Stereotypen geprägt worden sind; unbeteiligte Einsichten über die dortige Gesellschaft können mir helfen, solche Stereotypen wieder zu liquidieren.

Der erste großangelegte Versuch, diese Stereotypen zu liquidieren, hieß »die verbesserung von mitteleuropa. roman« Erschienenen im Januar 1969 in einer Auflage von 2000 Exemplaren unterschied sich dieses Buch schon rein äußerlich von allen anderen Produkten des Marktes: Es wurde ein besonders holzhaltiges Papier verwendet, das eigens hergestellt werden mußte und den Preis des Buches erheblich in die Höhe trieb. Der Umschlag ist von der spröden Sachlichkeit eines wissenschaftlichen Kommentarwerks. Zur Seitenzählung wurden römische Ziffern verwendet. Vor der Buchveröffentlichung wurde der Roman in der Grazer Zeitschrift »manuskripte« vorabgedruckt.

1967 beendete der Autor auf Drängen des Verlages die Niederschrift des noch nicht abgeschlossenen Buches. Die Passagen, die nicht mehr in die »verbesserung« aufgenommen werden konnten, sollten in erweiterter Form als eine Sammlung von Essays unter dem Titel »Wahn und Sprache« veröffentlicht werden. Dieses und auch einige andere Bücher erschienen nicht. Abgesehen von einer polemischen Broschüre gegen Arno Schmidt erschienen erst 1990 wieder zwei umfangreiche Werke. Von 1969 bis 1989 beschränkte sich Oswald Wiener auf die Veröffentlichung von Auftragsarbeiten (Essays, Aufsätze) in Zeitschriften und Sammelwerken. - Dies zur Information.

1. »die verbesserung von mitteleuropa« als Bildungsroman


Das Streben und Irren des Helden führt aus eigener Kraft auf einen Stand gewisser Vollkommenheit, der dem subjektiven Idealbild des Dichters und seiner Zeit entspricht.

Held dieses 'Romans' ist Oswald Wiener; alle anderen auftauchenden Figuren haben nur den Zweck, den Romanhelden herauszustellen. »Erfahrungen und Vorstellungen verteilen sich auf kein Romanpersonal, sondern sind Zustände des Ichs, sind Ausdruck einer sich in Wörtern und Sätzen mitteilenden Autobiographie - das heißt eines während ihrer Niederschrift erlebten und erkannten Veränderungsvorgangs.«
Der Roman wurde in den Jahren 1962 bis 1967 geschrieben. Der kontinuierliche Abbau der anerzogenen und auch selbst angeeigneten 'Kulturgüter' ist der sogenannte 'rote Faden'. Mit einer ausdauernden Wut kämpft Wiener gegen seine eigene Geschichte, gegen die ihm auferzwungene Sprache.

Wenn der Bildungsroman die Entwicklung eines Ichs beschreibt, die darin besteht, daß dieses sich die 'objektiven Kulturgüter' aneignet und in einer 'harmonischen Ausbildung der geistigen Anlagen' zu einer 'Gesamtpersönlichkeit' heranwächst, so ist nach dieser Definition die »verbesserung von mitteleuropa, roman« als ein 'negativer' Bildungsroman zu bezeichnen.

Wenn ein Roman den Bericht von der Auseinandersetzung zwischen einem Subjekt und der Umwelt, dem Individuum und der Gesellschaft meint, wenn da entscheidende Erfahrungen im Leben eines Ich notiert werden sollen, so läßt sich »die verbesserung von mitteleuropa« als ein Bildungs-Roman bezeichnen, wie er heute aussehen könnte, oder muß: abstrakt statt anschaulich, fragmentarisch statt vollendet, rücksichtslos statt verbindlich, mit einem Kompromiß zwischen Individuum und Gesellschaft, mit einem Ausgleich endend, der nicht als höhere Weisheit zu feiern, sondern nur als unter Zähneknirschen hinzunehmender Behelf zu akzeptieren ist.

Dieses Individuum, das auf 205 Seiten versucht, seine Bildung loszuwerden, führt das Leben eines Schmarotzers an der von ihm abgelehnten Gesellschaft: »brüder ernährt mich doch belehrt mit nicht.« (Seite XXVI) Dieses planvolle und bewußte Schmarotzertum ermöglicht ihm eine weitgehende Entfaltung seines Ichs. Der Staat und mit ihm seine von Wiener abgelehnte Sprache können ihm nicht mehr beikommen. »Ich halte selber einen sorgfältigen opportunismus für eine äußerst wirksame verteidigung.« (Seite CXLVI)
Allerdings bringt diese Haltung die Gefahr der Versteinerung und damit die Kollaboration mit dem Staat, den Wiener doch so entschieden ablehnt, mit sich: »konstatieren wir also, daß die anarchie nicht genügt« (Seite CXLVI). Diesem Anarchismus, der sich hauptsächlich auf die Schriften Max Stirner (»Der Einzige und sein Eigentum«) beruft, setzt Wiener den »escapismus« entgegen.

dieses renegatentum ist die flucht aus dem arbeitslager staat, desertion der wirklichkeit, ein abhauen aus der sprache. um die autorität der wirklichkeit ist es schlecht bestellt, wo die wirklichkeit der autorität als alptraum existiert. wer sich der annehmlichkeiten des jahrhunderts bedient wie eines gepflückten zweigs zum zahnstocher, der erbt nicht und der fühlt sich nicht als erbe. (Seite CXLVII)

Womit wir beim Thema 'Bildungsroman' wären. Ziel dieses 'escapismus' ist die Flucht aus der alles beherrschenden sprache; dieses Fluchtweg beschreibt der Roman.
Daß es nicht so einfach ist, aus der Sprache und damit den überkommenen Denkstukturen auszubrechen, dürfte nach der Lektüre des Buches klar sein. Immer wenn der Leser glaubt, auf dem Fluchtweg ein Stück weitergekommen zu sein, tauchen neue Formen und damit kulturelle Determinierungen auf, von denen man sich befreit glaubte.

Ein anschauliches Beispiel dieser Flucht aus der Wirklichkeit und der Geschichte sind die im Vorwort enthaltenen »kernstücke zu einer experimentellen vergangenheit« Ein weibliches Ich konstruiert sich seine Geschichte, indem es seine Wirklichkeit ablehnt und vernichtet. Destruktion der eigenen Geschichte ist auch das thema der »zwei studien über das sitzen« (eines der schönsten Prosastücke der modernen Literatur, wie mir scheint). In einer fast protokollarischen Prosa beschreibt Wiener hier, wie es Ich (es tritt auf als Oswald, Über-Oswald, etc.) sich aus den Zwängen der Umwelt befreit. Ein Bericht er einsetzt mit der Schilderung eines Kaffehausaufenthaltes, endet in einer durch Rauschmittel hervorgerufenen Vision. (»schiller dreht sich einen joint. weinstein kommt allmählich hoch, peter ist schon ganz oben. fast schon außer sicht...« (Seite CXXXII). Die Flucht aus der Wirklichkeit mit Hilfe der Rauschmittel ist aber nur von kurzer Dauer; auch sie kann nur vorübergehend zu einer Befreiung führen; auch er ist also nur bedingt tauglich.

Bleibt also nur der ständige Kampf gegen die Sprache. Er ist der einzige Weg, der Gefahr, durch den Staat vereinnahmt zu werden, zu entgehen. Dieser Kampf wird dauern solange das Individuum existiert, er hat kein Ende, es sei denn, einer gibt auf.

Der Kampf gegen die Sprache impliziert den Kampf gegen die literarischen Formen. »Wenn die form erfahrung unterbindet, muß man ihr entkommen.« So wird es also doch wieder fragwürdig, wenn man die »verbesserung von mitteleuropa« als einen Bildungsroman bezeichnet. Ein Bildungsroman nach der Definition Gero von Wilperts (der hier nur stellvertretend für die offizielle Literaturwissenschaft stehen soll) ist er sicher nicht; aber auch die Bezeichnung 'negativer bzw. destruktiver Bildungsroman' kann nur als Hilfskonstruktion dienen, um diesem Buch ein wenig näher zu kommen. Ließe es sich in bestehende Schemata der Literaturkritik einordnen, so wäre es abzulehnen, da Intention und Ausführung nicht in Einklang zu bringen wären. Wer die bestehenden Formen zertrümmern will, kann keinen Bildungsroman schreiben, kann überhaupt kein Buch schreiben, daß sich in irgendeine Kategorie einordnen ließe, kann also letztenendes überhaupt keine Literatur produzieren.

l i t e r a t u r .
beginnt zu lesen und setzt sich mit dem gelesenen zusammen, lernt eine scheinwelt kennen der sich fast niemand entzieht, der lernt eine sprache kennen die diese scheinwelt legitimiert. eine sprache deren gebilde zugeschnitten sind zur klösterei; zum denken deren komplexe ideen versteinern, blosse gedanken geschichtsreif machen sich den alltag drängeln; es gibt die welt der literatur, dämpfiger schwarm der erörterung da dringst du ein geeicht zu werden wider willen. (...) anders und miserabler denkt, wer liest.
(Seite XXXVIII)

Was also, wenn nicht Literatur, ist die »verbesserung von mitteleuropa«? Es ist der zu Sprache gewordene, und damit auch schon wieder verworfene Prozeß der Befreiung von Sprache. Und doch, obwohl verworfen, ist es kein überflüssiges Buch: es könnte dem Leser zeigen, wie er sich von seinen Zwängen befreien könnte, wie er eine »entfaltung seines selbst« herbeiführen könnte, wenn er sich von seiner Geschichte, seiner aufgezwungenen 'Natur' befreit. Eine Anleitung also ist dieses Buch.

2. Zum Konzept des »bio-adapters«

der bio-adapter bietet in seinen grundzügen die m.e. erste diskutable skizze einer vollständigen lösung aller weltprobleme. er ist die chance unseres jahrhunderts: die befreiung von philosophie durch technik. sein zweck ist es nämlich, die welt zu ersetzen. (Seite CLXXV)

Im Appendix A (Seite CLXXV - CLXXXII) beschreibt Wiener den bio-adapter. Er kann mit einem »glücks-anzug« verglichen werden, in den der Mensch nach vorher genau festgelegtem Programm hineinwächst. Erst in der Einheit von Mensch und Adapter sieht Wiener die höchstmögliche Entwicklungsstufe des Menschen. Außerhalb des Adapters ist der Mensch nach ihm »ein preisgegebener, nervös aktiver und miserabel ausgerüsteter (sprache, logik, denkkraft, sinnesorgane, werkzeug) schleimklumpen, geschüttelt von lebensangst und von todesfurcht ver-steinert« (Seite CLXXV). Erst durch Verschmelzung mit seinem Adapter wird er zu »einer souveränen einheit, die des kosmos und dessen bewältigung nicht mehr bedarf, weil [er] auf eklatante weise in der hierarchie denkbarer wertigkeiten über ihm rangiert« (Seite CLXXIX).

Der 'bio-adapter' schließt den Menschen von der Umwelt ab, er nimmt ihn völlig in sich auf. Bis zu diesem Endziel sind nun verschiedene Adaptionsstufen zurückzulegen.

Zu Beginn erforscht der Adapter zunächst einmal die elementaren Bedürfnisse des zu adaptierenden Menschen und stellt sich automatisch auf sie ein. Weiterhin muß der Adapter für eventuelle Änderungen der Bedürfnisse des Adaptierten offen sein, d.h. er muß sich umstellen können ohne äußere Eingaben. In der ersten Adaptionsstufe versucht der 'bio-adapter' sich auf die Wünsche und Bedürfnisse des inserierten Menschen einzustellen, ihm seine Umwelt und Gesprächspartner zu ersetzen. »seine lieblingspartner, lieblingsspeisen, lieblingsgifte, lieblingsplätze, lieblingsbeschäftigungen werden ihm laufend offeriert um ihn in spannung zu halten« (Seite CLXXIX).

In der zweiten Adaptionsstufe stellt sich der 'bio-adapter' nun bis ins letzte auf die leiblich-seelischen Zustände seines Inhalts ein. Der adaptierte Mensch verliert das Bewußtsein davon, adaptiert zu sein. Der Adapter nimmt die Stelle des Staates ein. Zuerst wird dem Adaptierten das Nervensystem entnommen und er direkt an den Adapter angeschlossen. Schmerzen bei derartigen Adaptionen werden dadurch ausgeschlossen, daß dem 'bio-modul' (i.e. der Adaptierte) irgendwelche anderen Reize eingeflößt werden, die den Schmerz nicht ins Bewußtsein (das ja noch vorhanden ist) rücken lassen.

Nun ist es nicht mehr weit, bis man von einer Einheit von 'bio-adapter' und 'bio-modul' sprechen kann.

Bleibt die Frage, wer an einen solchen Adapter angeschlossen werden soll.

Die Beschickung kann auf freiwilliger basis erfolgen, es könnte aber auch sein, dass die staatlichen machtmittel zum besten der bürger in anwendung gebracht werden müssen. man wird sich vorstellen dürfen, daß millionen von adaptern dicht aneinandergepackt in unter- oder oberirdischen wabensilos untergebracht werden können (selbstverständlich bedeutet das anlaufen der internationalen grossaktion das ende der menschheit - sicherlich jedoch nicht das ende des bewusstseins als spitzenerzeugnis der evolution, ganz im gegenteil!) (Seite CLXXVII)

Eine schöne Zukunft?

Um den 'bio-adapter' zu erläutern, hat Wiener dem Roman einen Essay begegeben (»notizen zum konzept des bio-adapters«). Er bildet einen in sich geschlossenen Abschnitt des Buches und sollte zur interpretation des übrigen benützt

Der Adapter ist ein versuch der desertion aller weltbilder und der geschichte (deren frucht er ja, letzten endes, ist), und diesem sollte zur begründung (...) eine lockere betrachtung des eschaton vorausgeschickt werden - jenes äussersten, auf das zu sich die gesellschaft nach den möglichkeiten der opinion-leaders offenbar bewegt; des letzten, wie es einer habilitierten denkungsart ansteht; der auflösung der geschichte in wohlgefallen; das ausrollen der neuzeit in kybernetik (Seite CXXXIV).

Der erste Abschnitt des Essays ist überschrieben linguistik und ontologie, in ihm setzt sich Wiener mit den herrschenden, allgemein anerkannten Lehren der modernen Linguistik auseinander. Er bestreitet jegliche Abbildfunktion der Sprache. Erst durch die Sprache gelangt die Wirklichkeit ins Bewußtsein, und wer die Sprache in der Hand hat, wer sie manipulieren kann, der kann auch die Wirklichkeit manipulieren. »es ist die sprache das wirkliche, das reale, das einzige, das greifbare, das vorhandene, der masstab ist die kommunikation - nebelflecke und sinneseindrücke heften sich daran als 'wirklichkeit' und 'bewußtsein'« (Seite CLVI f.).

Wer sich gegen diese von der Sprache (und damit vom Staat) gegebene Wirklichkeit stellt, wird verfolgt. Wer mit der Sprache nicht auskommt, wer ihre Grenzen überschreitet wird in eine 'Heilanstalt' gesteckt.

jede 'geisteskrankheit' ist eine 'krankheit' der kommunikation, und wird auffällig, sobald die kommunikation des 'kranken' nicht mehr in 'selbstverständlicher' weise einzuordnen ist. wo er (der 'kranke') ... die sprache beschädigt, wird er ausgestossen. in diesem unentwirrbaren knäuel von sprache, staat und wirklichkeit, in dieser heiligen dreifaltigkeit, in der jeder aspekt im anderen realisiert ist, die sich am idioten rächt weil er, der letzte, sie nicht anbeten mag, (...) muß der bedrückte äußerst sorgfältig die richtschnur beachten (Seite CXLII).

Wer diese Richtschnur nicht beachtet, wird beschwatzt und bestürmt, in den staat zurückzukehren, der amtsarzt arbeitet dabei mit allen mitteln, die zur anwendung kommenden medikamente (...) dienen in erster linie zur versetzung der gitter und mauern in das bewußtsein der opfer, so dass sich dem sonntäglichen besucher die anstalt in freundlichem licht präsentieren kann (Seite CLIX).

Der Staat versucht also, nach Wiener, jegliches Ausbrechen aus seinem Herrschaftsbereich, der Sprache und damit der Wirklichkeit zu verhindern. Er schafft also damit die erste Voraussetzung zur Anwendung des 'bio-adapters'. Wenn die Empfindungsweisen einmal genormt sind, dann ist auch der Schritt zu weiteren Adaptionen nicht mehr weit.

Man muß sich also hüten auszubrechen; vielmehr: man muß sich hüten, den Ausbruch nach außen in Erscheinung treten zu lassen. An dieser Stelle tritt nun der oben beschriebene »planvolle opportunismus« in Aktion.

Das Außerordentliche kann sich nur noch im Verborgenen ausbreiten; sobald es zutagetritt, wird es vom Staat verfolgt. Je mehr sich die Herrschaft des Staates festigt, um so mehr breitet sich eine ungeheuere Nivellierung aus, um so mehr wird alles Gesprochene und Geschriebene zum Gesetz, das keinen Widerspruch duldet.

in so sich festigender herrschaft des staates, in derart sich ausbreitender kommunikation, die einerseits, wie wir zu empfinden allerdings die fähigkeit verlieren, das ausserordentlichste nivelliert, weil nur mehr mediokre sprache da ist, andererseits durch ihr wachstum die regel wuchern lässt, weil sie identisch ist mit ihr, in diesem uniformen pluralismus besteht wenig hoffnung (Seite CXLIII).

Was wäre nun gegen diese Verflachung des Bewußtseins und die Vereinahmung durch den Staat zu tun? Wiener untersucht die Möglichkeiten dagegen etwas zu unternehmen in Abschnitt c) »was tun?« der 'notizen'.

Da wäre zunächst einmal der Verbrecher, der vom Staat als sein hauptsächlichster Gegener angegeben wird. Letzten Endes aber ist der Verbrecher doch an dem Staat interessiert, da nur er ihm eine Arbeitsgrundlage schaffen kann. (Ohne Gesetz kein Verbrecher!) Noch stärker aber als bei dem 'Einzel'verbrecher ist das Interesse am Staat bei dem organisierten Gangstertum (vor allem in den USA), das ja selbst schon wieder einen Staat im Staat darstellt.

Positiver sieht Wiener die jugendlichen Banden, etwa die 'Hell's Angels of California'. In ihrem ziellosen Herumrasen, ihrem zwanglosen Zusammentun sieht er einen Ansatz zu einer wirksamen Opposition gegen den Staat.

wichtiger noch wären hier die schlägerbanden der großen städte, (...) gelegenheitsgesellschaften, häufig für einen abend, oft für tage, manchmal für wochen, ziellos, ohne organisation, auf der suche nach spass (Seite CXLV).

Mehr noch als an diesen Banden ist Wiener an den großen Einzelgängern interessiert, vor allem bewundert er den großen Outcast Charles Whitman.

Bleibt noch, neben dem Stirnerschen Opportunismus, die Intelligenz, die, »sobald sie das mass der wähler übersteigt, an sich schon kriminell ist« (Seite CXLVI).

Voraussetzungen für eine Lösung der Probleme durch den 'bio-adapter':

die kybernetik bietet erstmals eine lösung der durch den gang der geschichte aufgeworfenen probleme: begründete hoffnung, daß der mensch von seiner auseinandersetzung mit der umwelt befreit werden könne, ein teil dieser auseinandersetzungen wird schon in absehbarer zeit den computern übergeben werden können (ist ihnen de facto bereits überlassen); schließlich aber werden sie forschung und erkenntnis vollständig in eigenregie übenehmen, und damit der menschheit endlich jenes schmarotzertum ermöglichen, das bisher nur dem einzelnen durch planvollen opportunismus offenstand - jedoch 'auf kosten der anderen', und daher entweder im staat selbst untermauert oder duch ihn verfemt, in beiden fällen nicht ohne opfer oder risiken.

ob aber ein schlaraffenland gestalt annehmen kann, ob wirklich zahlreiche parasiten die leis-tungen automatischer forschungsanlagen und fabriken wie die von wirtstieren geniessen werden können, wird auch davon abhängen, ob der pragmatismus auf der höhe seiner entwicklung einen salto zu machen im stande sein wird; ob jene die geschichte der wissenschaften und mithin die sture einheit unseres weltbildes garantierende 'wissenschaftliche methode' aufgelöst werden kann, oder ob sie unserem erleben und unserem leben das ende bereiten soll, welches sie als verfassung der welt bereit hält. (Seite CXLVIII)

Eine schöne Zukunft? - Vielleicht für viele eine Möglichkeit, der modernen 'Assimilationsdemokratie' zu entfliehen. Bis zu einer 'Inbetriebnahme' verbleibt für viele nur der Anomismus die einzige Möglichkeit, dem Staat und seinen Zwängen zu entkommen; eine allerdings nie voll befriedigende Lösung.

3. Zdenko Puterweck - der erste Mensch im 'bio-adapter'

Abgesehen von einer eher belanglosen Polemik gegen Arno Schmidt (genauer gesagt: gegen die Vermarktung dieses Autors unter dem Etikett 'Höhepunkt der fortschrittlich-experimentellen Literatur') ) erschien erst einundzwanzig Jahre nach der Erstauflage der »verbesserung von mitteleuropa« ein neues Buch von Oswald Wiener. Als Autor dieser Aufzeichnungen firmiert ein Zdenko Puterweck. Doch noch bevor das Buch in den Regalen der Buchhandlungen zu finden war, schrieb Günter Nenning in der Zeit:

Ich enthülle hiermit, wie es meine verdammte journalistische Pflicht ist, daß der soeben erschienene Roman "Nicht schon wieder", von dem der Verlag Mathes & Seitz behauptet, er habe das Manuskript hierzu von einem Herausgeber namens Evo Präkogler erhalten, der seinerseits behauptet, der Autor sei ein gewisser Zdenko Puterweck - in Wahrheit von Oswald Wiener ist.

==> Und hier versiegt die Lust den Text weiterzuführen ... das Interesse ist verschwunden ... höchstwahrscheinlich wird es auch nie wiederkommen ... also Schluß mit Oswald Wiener ... (21. August 1993)

Folgende (weitere) Kapitel waren vorgesehen:

4. Der Einzelne - Dandy oder Nihilist

===> Einiges über Konrad Bayer, in: Die Zeit, Hamburg, vom 17. 2. 1978

===> Eine Art Einzige, in: Verena von der Heyden-Rynsch (Hrsg.): Riten der Selbstauflösung, München 1982, Seite 35-78

5. Ansätze zu einer Poetik im naturwissenschaftlichen Zeitalter

===> subjekt, semantik, abbildungsbeziehungen. ein pro memoria, in: manuskripte 29/30, Graz 1970

===> Über das Ziel der Erkenntnistheorie, Maschinen zu bauen, die lügen können, in: Jean Baudrillard: Die falschen Strategien, München 1985, Seite 235-250

===> Persönlichkeit und Verantwortung, in: manuskripte, Graz 1987, Seite 92-101

===> Simulation und Wirklichkeit, in: H.U.Reck (Hrsg.): Kanalarbeit. Medienstrategien im Kulturwandel, Basel / Frankfurt/M 1988, Seite 311-326

===> Mathematik +/- Dichtung, in: taz, Berlin, 22.1.1989

6. Probleme der künstlichen Intelligenz

===> Probleme der künstlichen Intelligenz (hg. von Peter Weibel), Berlin 1990

===> Turing Test. Vom dialektischen zum binären Denken, in: Kursbuch 75, Berlin 1984, Seite 12-37

===> Form and Content in Thinking Turing Machines, in: R. Herken (Hrsg.): The Universal Turin Machine / A Half Century of Survey, Berlin 1988, Seite 631-657

===> Kambrium der Künstlichen Intelligenz. Nachwort zu: Herbert A. Simon: Die Wissenschaft vom Künstlichen, Berlin 1990, Seite 175-228

7. Nicht weiter ausgeführte Ansätze

Es kann in einem begrenzten Rahmen nicht auf alle Veröffentlichungen Oswald Wieners eingegangen werden. Die folgende Liste verzeichnet die Texte, deren Impulse zwar in die Arbeit eingegangen sind, auf die aber nicht so umfassend eingegangen werden konnte, wie sie es verdienen:

-> (mit Konrad Bayer) starker toback. kleine fibel für den ratlosen, Paris 1962
-> wir möchten auch vom arno-schmidt-jahr profitieren, München 1979
-> du dich ich. konstellation, in: konkrete poesie 3, Frauenfeld/Schweiz 1960, Seite 4
-> das 'literarische cabaret' der wiener gruppe in: Gerhard Rühm (Hrsg.): Die Wiener Gruppe, Reinbek 1967
-> in sachen rowohlt,in: Die Zeit, Hamburg, vom 10.10.1969
-> Vorwort zu: Hermann Nitsch: Orgien Mysterien Theater,Darmstadt 1969, Seite 20-23
-> beiträge zu einer ädäologie des wienerischen, in: Josephine Mutzenbacher. Die Geschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt, München 1969 (Anhang)
-> Der Geist der Superhelden. Vortrag,in: Vom Geist der Superhelden - Comic Strips, Berlin 1970, Seite 93-101
-> Ein merkwürdiges Urteil (Günter Brus), in: Neues Forum, Wien, April 1972, Seite 52-57
-> Ein Haufen Teilverdautes (zu D.Rot),in: Diter Rot: Frühe Schriften und typische Scheiße, Darmstadt 1973, o.p.
-> Aus meinem Tagebuch, in: Hubert Fichte: Mein Lesebuch, Frankfurt/M 1976, Seite 294-303
-> Gedanken bei der 'documenta 6', in: Rogners Magazin, München, Nov./Dez. 1977, Seite 124-127
-> Über den Illusionismus, in: Oskar Panizza: Psichopatia criminalis, München 1978, Seite 213-237
-> Gespräch mit Friedrich Geyrhofer,in: Wiener, Wien, Mai 1980
-> Beim Wiederlesen von Carl Einstein, in: K, März 1985, Seite 78-81
-> Ein Verbrechen, das auf dem Papier begangen wird, in: B.Mattheus/A.Matthes (Hrsg.): Ich gestatte mir die Revolte, München 1985, Seite 352-359
-> Wer spricht (für Hubert Fichte), in: Schreibheft 25, Essen 1986, Seite 108-111
-> Von der Freiheit eines Grizzlybären / Wahl eines Wortes, in: Der Pfahl I, München 1987, Seite 130-133
-> Interview, in: 59 to 1, München, März/April 1989, Seite 38-43
-> Eine Kultur, in: Oswald Wiener - Maria Lassnig. Bilder der sechziger Jahre, München o.J., o.P. (auch in: Der Pfahl III, München 1989, Seite 227-230
-> Ein zum Teil imaginiertes Gespräch mit Günter Förg, in: Fama & Fortune Bulletin Nr. 2, Wien, Juli 1990, o.P.
-> Gespräch mit Florian Rötzer, in: Der Pfahl IV, München 1990, Seite 110-119

Eine kontinuierliche Beschäftigung mit den Arbeiten dieses Autors scheint angeraten. Sie wird (auf die eine oder andere Weise) geschehen.

8. Zitate

1.
wenn der leser einen gewinn aus der lektüre meines buches ziehen kann, so wird das, hoffe ich, ein gefühl davon sein, dass er sich mit aller kraft gegen den beweis, gegen die kontinuität und die kontingenz, gegen die formulierungen, gegen alles richtige, unabwendbare, natürliche und evidente richten muss, wenn er eine entfaltung seines selbst - und sei es auch nur für kurze zeit - erleben will. möge er bedenken, welcher kraft, welchen formats es bedarf, gegen eine im grossen ganzen abgerundete, stimmige, einhellige welt aufzustehen, wie sie uns in jedem augenblick an den kopf geworfen wird: er wird mir verzeihen, wenn ich die richtigen ansatzpunkte selten gefunden und in vielem über das ziel hinausgeschossen habe. (verbesserung, CXCI)
2.
m e i n   i d e a l .
ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser ära komplett zu machen.
(verbesserung, XXX)
3.

in der literatur verstehe ich unter qualität in erster näherung die überwindung (oder doch wenigstens den interessanten versuch dazu) von bestehenden denkschemata, die schaffung neuer kalküle - nicht aber die mehr oder weniger geschickte anwendung längst bestehender. (in sachen rowohlt, die zeit, hamburg, 10.10.1969)


Anmerkungen:

Zu: Fragmentarische Poesie
Geschrieben als Vorarbeit zu einem größeren (Buch) Projekt im Frühjahr 1990. Vgl. den Schluß.

Zu: Fünf Sätze über Zettels Traum

Vorbemerkung zum ersten Text, der (wen wunderts?) etwas zu einem meiner zehn Lieblingsbücher sagen will:
Angeleiert von mir, veranstaltet Monika M. (d.h.ihrer Firma) lasen am 11.6.1991 in Augsburg Joachim Kersten, Bernd Rauschenbach und Jan Philipp Reemtsma von der Arno-Schmidt-Stiftung aus Zettels Traum. Aufgefordert, in einem Satz zu sagen, was das Besondere/Wichtige an diesem Buch sei, habe ich einen Kompromiß geschlossen und fünf Sätze geschrieben.
Natürlich könnte ich über dieses RiesenBuch noch einiges mehr sagen... Aber dazu müßte ich viel viel mehr Zeit haben... Und außerdem steht mir der Autor so nahe, daß ein Diskurs über ihn immer zu privat/subjektiv bleiben würde... Also: die Finger von Zettels Traum lassen...

Zu: John Crowe Ransom - Das lyrische Werk

Über jemanden schreiben, von dem man nur zwei drei Gedichte kennt, ist ebenso unsinnig. Ich habs trotzdem getan: auf Anforderung einen Lexikonartikel über den Südstaatendichter John Crowe Ransom verfasst... für Kindlers Literaturlexikon... es ist ein schlechter Text... die Erfahrung beim Schreiben über einen Autor, über den man sich aus Primär- und Sekundärliteratur mühsam ein Wissen aneigenen muß, rechtfetigt diese Arbeit...
Veröffentlicht in: Kindlers Neues Literaturlexikon, hrsg. von Walter Jens, Band 13, München 1991, Seite 947-949.

Zu: ... vor Gebrauch schütteln ...

Ein Freund bat mich, ein Manuskript zu lesen. Das habe ich getan und ein paar spontane Anmerkungen auf dem Papier hinterlassen. (Thomas M. Scheerer, Mario Vargas Llosa. Leben und Werk. Eine Einführung, Frankfurt/Main (suhrkamp taschenbuch 1789) 1991, 222 Seiten.)

Zu: Tagebuch eines Coyoten

Seit ich schreibe, habe ich ein Tagebuch geführt. Zuerst mehr oder weniger konsequent, dann mehr oder weniger inkonsequent, d.h. mit immer größeren Zwischenräumen / Abständen ... Das TAGEBUCH hatte mir immer wieder geholfen, Schreibschwierigkeiten zu überwinden. Zuletzt waren es nur noch winzige Fragmente, die ich immer mal wieder zusammengefaßt habe zu größeren 'Zusammenhängen', die natürlich nie existierten ... Mittlerweile bin ich es leid ... Darum - an dieser Stelle - die nun wirklich letzte 'Zusammenfassung von Bruchstücken ... Es muß noch einen zweiten Weg ums Hirn rum geben, wie Peter Rühmkorf sagt.

Zu: Versuch über Gedichte

Der vorliegende Text ist die erste Fassung eines Versuchs über Gedichte, geschrieben im Mai 1992. - Weitere (ergänzte und revidierte) Fassungen werden folgen.

Zu: Einige Bemerkungen zu Oswald Wiener

In einem alten Ordner entdeckte ich eine Seminararbeit aus meiner Zeit an der Uni München. Es schien nicht das Schlechteste zu sein, was ich damals gemacht hatte. Es kam der Gedanke auf, sie zu überarbeiten und weiterzuschreiben. Mit der Zeit schwand das Interesse und so bleiben einige Fragmente übrig, die hier versammelt sind. Im Sinne der archäologischen Ziel-setzung der BIOGRAPH-TEXTE stehen sie hier und bleiben stehen. An eine Weiterführung ist nun nicht mehr gedacht.  (21. August 1993)