RAINER MARIA GERHARDT - DICHTER UND VERMITTLER
Die Ausgangssituation in Deutschland:
Ernst Robert Curtius     *     Gottfried Benn     *     Paul Klee
Der Anschluß an die Weltliteratur:
Ezra Pound     *     Saint-John Perse
Der Dichter:
"der tod des hamlet"     *     "umkreisung"     *     dichtungen für radio
Der Vermittler:
der Übersetzer     *     "fragmente"     *     "schriftenreihe der fragmente"     *     das Scheitern ...

Wo konnte 1945 ein Achtzehnjähriger seinen ästhetisch-literarischen Wissensdurst stillen? Auf sich allein gestellt mußte er diese Arbeit selbst, für sich und (meistens) ohne fremde Hilfe leisten. Zwei Wege waren zu gehen: 1. Es war ein Anschluß zu finden an die eigene, verlorengegangene Tradition, und 2. mußte der Blick über die eigene (Sprach-)Grenze hinausgelenkt werden, hin zu anderen Kulturen. Wer nicht stehenbleiben wollte, mußte diese beiden Wege gehen.

Das folgende Kapitel stellt die für Rainer M. Gerhardt unauflösbare Verbindung von Vermittler und Dichter dar, so wie sie ihm in den Nachkriegsjahren für seine Person zwingend erschien. Für ihn war der ganze Weg des Gedichtes von Bedeutung: von den Wurzeln in der eigenen Tradition und der Weltliteratur, über den eigentlichen poetischen Schaffensprozeß bis hin zur Präsentation des Textes für den Leser.

Die Ausgangssituation

Einen Anschluß an die eigene Tradition zu finden war nach 1945 gleichbedeutend mit einem Absetzungsversuch von dem, was nun maßstäbesetzend wurde. Es galt einen Anschluß an die eigene Tradition zu gewinnen, der unbelastet war von der Hypothek des Nationalsozialismus, und es galt einen Anschluß zu finden an die Tradition der Moderne, wie sie sich außerhalb Deutschlands konstituiert hatte.

In seinem Essay über Vergil macht sich Theodor Haecker Gedanken über das Traditionsbewußtsein der Deutschen und kommt dabei zu dem Schluß:

Der Deutsche sucht immer nach der Quelle, und das ist gut, aber er mißachtet dabei den aus der Quelle gewordenen Strom, der doch ebenso Natur ist; und das ist nicht gut. Nun ist das Werk Vergils ein Strom aus vielen Quellen, die aber alle in ihm sind. Der Deutsche meint, nur die Quelle sei rein, aber auch der Strom ist rein (...). Alle Ursprünge bleiben in dem breiten Strome Vergils. Wer den Strom verneint und nur die Quelle bejaht, wird phantastisch, denn real sind beide. Er findet dann auch die Quellen nicht mehr.

Der pädagogische Impuls der Gerhardt'schen Bemühungen resultiert aus dieser Erkenntnis, daß die Menschen den Strom ken-nenlernen müssen, das kulturelle Fundament, auf dem sie stehen. Ähnliche Gedanken finden sich auch in dem Essay Wie lesen von Ezra Pound, den Gerhardt übersetzte und in seinem Verlag veröffentlichte: ein Lese- und Bildungsprogramm für Literaturstudenten, und nicht nur für sie.

Gleichgesinnte fanden die Gerhardts Ende der vierziger Jahre in Freiburg. Dort gründeten sie mit Freunden die 'Gruppe der Fragmente', die es sich zur Aufgabe setzte, "neues zu suchen und zu finden und eine kleine gemeinschaft zu sein, der es auf die versuche ankommt." Der geistige Hintergrund dieser Gruppe, die Tradition, aus der sie schöpfte, wurde verkörpert durch drei Männer, die, jeder auf seine eigene Art, Leitfiguren in ihrem jeweiligen kulturellen Wirkungskreis waren: Ernst Robert Curtius, Gottfried Benn und Ezra Pound.