POETOLOGIE

Nicht nur aufgrund seiner Lehrtätigkeit am Black Mountain College muß man den Einfluß Charles Olsons auf die jüngere amerikanische Dichtergeneration als besonders bedeutsam einschätzen. Robert Creeley, Allen Ginsberg, Paul Blackburn und viele andere haben immer wieder seinen Einfluß auf ihr Schaffen bekundet. Als eine Stimme von vielen mag die Allen Ginsbergs zitiert werden. In einem Interview antwortet er auf die Frage, ob Charles Olson ihn beeinflußt habe: »Oja, sicher, ich kannte ihn gut - ich habe seinen Sarg zu Grabe getragen! Ganz wichtiger Einfluß, ja.
(...) sehr nützlich (ist), weil er in der Tat eine Menge praktischer Vorschläge enthält, wie man Schreibmaschinen-Symbole, Schrägstriche und Punkte und solche Sachen einsetzen kann, wie man Takte notiert, wie man den Leser darauf hinweist, wie er seinen Atem unterbrechen soll, wie lange er warten soll, wann er ihn anhalten und wann er ihn wiederaufnehmen soll. 1)

Bis in die jüngere und jüngste amerikanische Dichtergeneration reicht sein Einfluß: So nimmt z.B. die inzwischen legendäre Rock-Gruppe 'The Fugs' seine Texte in ihr Programm auf (z.B. auf der Platte 'No More Slavery'), und ihr Gründungsmitglied, der Lyriker Ed Sanders, kann sich mit Fug und Recht als Olson-Schüler bezeichnen. Besonders hervorgehoben wurde die Bedeutung des Essays über den projektiven Vers durch William Carlos Williams, der in seiner Autobiographie Textteile abdruckte. 2) Auch in Deutschland ist nicht zuletzt dank Rainer Maria Gerhardt Olsons Einfluß nicht von der Hand zu weisen; z.B. bei Helmut Heißenbüttel:

Daß Olson nicht bekannt ist, erscheint um so erstaunlicher, als er früher als andere amerikanische Lyriker in Deutschland vorgestellt wurde, und zwar bereits 1952 in Rainer M. Gerhardts 'Fragmenten', zu dessen engeren Mitarbeitern Creeley gehörte. Aber leider ist auch Olson, wie die anderen Aktivitäten, dieses wohl entschiedensten literarischen Vorstoßes in Deutschland unbemerkt geblieben. Die wenigen, die, wie ich selber, sich daran orientiert haben, scheinen nicht zu zählen. 3)
Die Gemeinsamkeit zwischen den Partnern wird von Gerhardt ausgesprochen, wenn er sagt: »Eine große übereinstimmung zwischen meinen vorstellungen vom gedicht und ihrer arbeit finde ich.« Im folgenden soll untersucht werden, wie weit diese von Gerhardt postulierten Gemeinsamkeiten gingen und wo die (zuweilen doch gravierenden) Unterschiede lagen.

6.1  Der projektive Vers

1950 erschien in der New Yorker Zeitschrift Poetry, Nr. 3, Olsons maßstäbesetzender Essay

 P r o j e k t i v e    V e r s e
 (projectile        (percussive              (prospective
                          vs.
                   The NON-Projective
(or what a French critic calls "closed" verse, that verse which print bred and which is pretty much what we have had, in English & American, and have still got, despite the work of Pound & Williams:
it led Keats, already a hundred years ago, to see it (Wordsworth's, Milton's) in the light of "the Egoistical Sublime"; and it persists, at this latter day, as what you might call the private-soul-at-any-public-wall)
5)

Wie nur wenige Texte in der amerikanischen Literaturgeschichte übte dieser Text Einfluß aus. Hervorgegangen aus brieflichen und mündlichen Äußerungen des Autors kann er auf eine lange Entstehungsgeschichte zurückblicken. 6)

Seine Absicht war die Befreiung von dem Vers, »den der Druck gezeugt hat« und der durch die Arbeiten von Ezra Pound (How To Read', Cantos) und William Carlos Williams (Paterson) überholt zu sein schien. Die 'neue Richtung' (im Sinne Pounds: »Make It New!« sollte ins Offene, in das FELD gehen. FELD kann hier übersetzt werden mit Buch- bzw. Manuskriptseite. Das Gedicht sollte zur FELD-KOMPOSITION werden.»
Der offene Vers wird bestimmt von einer Bewegung, die die Fähigkeit haben muß, das Gedicht  über drei Stationen hinweg zu tragen. Ausgangspunkt ist der Impuls, der das Gedicht auslöst. In diesen Antrieb steckt der Dichter seine Kraft, die beim Leser wiederum eine neue Energie auslösen muß. 8)

Beeinflußt ist diese Theorie zweifellos von Ezra Pound und Ernest Fenollosa ('kinetische Feldtheorie'). 9) Ausgehend vom chinesischen Ideogramm wird der Satz als ein komplexes Zeichen definiert: Dem Ideogramm liegt ein Gegenstand zugrunde, der sich in einem ganz bestimmten Bild ausdrückt, das einen ganz bestimmten Symbolwert (= Bedeutung) enthält. Analog dazu geht der (poetische) Satz aus von: (1) einem konkreten Objekt, von dem er abstrahiert; dieses Objekt wird (2) durch Energieübertragung (= eigentlicher Satz) zum (3) Zielobjekt, dem Leser, geführt. Voraussetzung ist, daß der Satz (als Ganzes) nach beiden Seiten hin offen ist: Weder (1) noch (3) werden sichtbar; was allein zählt ist (2).
Natürlich gibt es Differenzen zwischen den einzelnen Stationen; der Kern (das Unveränderbare, das, was im auslösenden Gegenstand, im Gedicht selbst und im Leser im Moment der Lektüre vorhanden ist), dieser Kern ist gleichsam von einer jeweils unterschiedlichen Hülle umgeben. Welche Unterschiede diese drei Stationen kennzeichnen, bleibt der Interpretation / Untersuchung des einzelnen Gedichtes vorbehalten; es gibt keine unumstößlichen, unveränderlichen Unterschiede.

Getragen wird Olsons Dichtung von dem poetischen Prinzip: »FORM IS NEVER MORE THAN AN EXTENSION OF CONTENT.« Was sich dem Dichter aufdrängt, was sich im Gedicht 'aussagen' will, sucht sich seine Form. Hat es seine adäquate Form gefunden (die Form, die ihm und nur ihm entspricht), so können wir sagen, daß seine Form vollkommen ist, auch dann, wenn sie dem Leser fragmentarisch unverbunden vorkommt. Der nach vorn gerichtete Vers muß sich einem bestimmten poetischen Schaffensprozeß unterordnen: »ONE PERCEPTION MUST IMMEDIATELY AND DIRECTLY LEAD TO A FURTHER PERCEPTION.« Das Gedicht hat einen Rhythmus, einen vielfach gebrochenen zwar, aber er ist da und er treibt den Leser an bei seiner Lektüre. Dieser Rhythmus, getragen vom Atem des Dichters (dazu später) muß das Tempo vorgeben: Da darf es keine Pausen und Unterbrechungen geben. So ist die Maxime von der fortschreitenden Erkenntnis zu verstehen.
Olsons Denken über Poesie ist geprägt von einigen wenigen Haupt-Wörtern, die sich in ihrer Bedeutung entscheidend von ihrem geläufigen Gebrauch absetzen. Speziell für europäische Ohren dürften einige Definitionen ungewöhnlich klingen. Im folgenden werde ich versuchen, einige der wichtigsten Begriffe von Olson Poetik näher zu erläutern.

»the HEAD, by way of the EAR, to the SYLLABLE
the HEART, by way of the BREATH, to the LINE«
 
a) Der Atem
Das wichtigste Kriterium für den Bau eines Gedichtes ist der Atem des Dichters: er bestimmt die Länge der Zeile und damit den Umfang bzw. die Dauer des Gedankens. Atem bedeutet nichts anderes als die Kraft, die der Dichter aufwenden kann und muß, um das von ihm aufgenommene 'Material' zum Leser zu 'transportieren'. Diese Kraft (oder besser: ENERGIE) kann den Bau der herkömmlichen Zeile sprengen. Nur der Vers darf passieren, »in which a poet manages to register both the acquisitions of his ear and the pressures of his breath«
Olson nimmt Bezug auf Dante, wenn er den vom Atem bestimmten Sprechrhythmus als »the non-literary«) bezeichnet. Dieses ursprüngliche und im wörtlichen Sinne muttersprachliche Reden ist naturgemäß der Sprache der Regeln (Grammatik, Syntax, Orthographie) überlegen, weil es flexibler, anpassungsfähiger und damit für den Dichter des freien Verses brauchbarer ist.

Eine weitere Quelle für den Dichter, das ursprüngliche Wort zu finden, ist die Etymologie. Olson nutzt diese Quelle sehr umfassend, indem er weit in die Zeit zurückgreift und auch sehr entlegene Sprachen untersucht (Hopi, Maya, Sanskrit, etc.). Ziel dieser Bemühungen ist:

the replacement of the Classical-representational by the primitive-abstract. (...) I mean of course not all primitive in that stupid use of it as opposed to civilized. One means it now as 'primary', as how one finds anything, pick it up as one does new - fresh / first. 15)

In einem Brief an Cid Corman faßt Olson seine Intentionen in einer sehr kurzen und prägnanten These zusammen: »not taste, but ENERGIE«.
 
b) die Silbe
Reim/Metrum und Sinn/Klang werden zugunsten der Silbe zurückgestellt. Wenn das vom Ohr des Dichters Aufgenommene Inhalt und Kriterium zugleich ist, dann kann nur die Silbe Bauelement werden. Denn nur sie gestattet die Präzisionsarbeit, die ein vollendetes Gedicht verlangt. Es ist dies eine Arbeit, die ständiges Hinhören verlangt, denn nur so kann das Ohr geschult und in die Fähigkeit versetzt werden, Harmonie von Disharmonie, Echtheit von Falschheit zu scheiden. »It is from the union of the mind and the ear that the syllable is born.« Die Silbe ist der Ausgangspunkt, die Wurzel des Gedichts (Sinn = Geist). Die Schönheit entsteht durch diese kleinsten (Klang-) Partikel und den Sinn der Wörter, die aus ihnen zusammengesetzt sind.
 
c) die Zeile
Sie ist neben der Silbe das zweite Bauelement des Gedichts. Der Inhalt strebt in der Zeile nach seiner Form. Auch hier wird wieder äußerste Konzentration und Aufmerksamkeit gefordert, um das, was an Energie vom Gegenstand des Gedichts ausgegangen ist, unverfälscht und genau zum Leser zu bringen. Jeder Verlust an Aufmerksamkeit bedeutet einen Verlust an Energie und damit an Überzeugungskraft.19) Die von außen durch das Ohr zum Geist und weiter durch den Atem transportierte Energie findet in der Zeile ihren Ort. Der Zeilenbruch findet dort statt, wo auch die (Gedanken-)Energie abbricht/endet. Die Zeile ist also so lang, wie der Atem / die Energie des Dichters reicht.

d) das Feld
Die vom Wortmaterial ausgestrahlte Energie bestimmt die Anordnung der Wörter, der Satzteile, der Sätze auf einer Seite. Die Buch- bzw. Schreibmaschinenseite wird als Einheit zugrunde gelegt (besonders deutlich in den Maximus-Gedichten): Mit visueller Poesie hat das allerdings bis auf wenige Ausnahmen nichts zu tun.

The objects which occur at every given moment of composition (of recognition, we call it) are, can be, must be treated exactly as they do occur therein and not by any ideas or preconceptions from outside the poem, must be handled as a series of objects in field in such a way that a series of tensions (which they also are) are made to hold, and to hold exactly inside the content and the context of the poem which has forced itself, through the poet and them, into being. 20)

Charles Olson hat zeit seines Lebens darum kämpfen müssen, daß seine Gedichte in der FORM erscheinen konnten, die er für sie vorgesehen hatte. Dazu gehört auch vor allem die Verteilung des Textes auf der Buchseite. Grundsätzlich können wir fünf verschiedene Grundformen unterscheiden, mit deren Hilfe sich das projektive Gedicht auf der Seite RAUM verschafft 21):



Beispiel Nr. 1: The Maximus Poems, Seite 382 (Die entsprechenden Seiten werden im folgenden reproduziert. Hier: vgl. Abb. 1). - Der Text des Gedichtes bleibt eng an den linken Rand der Seite gerückt. Diese Form legt das Gewicht auf eine 'realistische', unmittelbare Wiedergabe von Wahrnehmungen, Erfahrungen und intellektuellen Erkenntnissen. Es gibt keine 'Ausflüge' ins Imaginäre oder in den Traum. Bei unserem Beispiel handelt es sich um die Wiedergabe einer Erzählung des lyrischen Ich (= Maximus).
Beispiel Nr. 2: Eine Seite aus dem Gedicht As The Dead Pray Upon Us, The Collected Poems, Seite 394 (vgl. Abb. 2). - Hier wird der überwiegende Teil der Textmasse nach rechts gerückt. Dieser Textteil vermittelt uns Bilder und Vorstellungen aus der Traumwelt des Autors. Die Argumentation bewegt sich in künstlichen Räumen. Sie ist reich an spekulativen und prophetischen Elementen. Die vier an den linken Rand gerückten Zeilen führen uns zurück in das Reich der Realität. Diese changierende Form gibt dem Autor die Möglichkeit, bruchlos von einer Empfindungs- bzw. Darstellungsweise in eine andere zu wechseln. Die menschliche Wahrnehmungsweise wird so in ihrer ganzen Vielfalt darstellbar.
Beispiel Nr. 3: Eine Seite aus dem Gedicht The Death of Europe (a funeral poem for Rainer M. Gerhardt), The Collected Poems, Seite 310 (vgl. Abb. 3). - Diese Seite zeigt uns die Möglichkeit, von genauester Beobachtung bzw. erkennender Beschreibung (links) zu unvermuteter, plötzlicher Erkenntnis (rechts) zu kommen. Während der 'Realitätsteil' (links) versucht, die Person Rainer Maria Gerhardt zu evozieren, vermitteln uns die zehn nach rechts gerückten Zeilen die Bedeutung, die der Tod des jungen Dichters für seinen Freund gehabt hat. Die drei letzten Zeilen dieses Teils verweisen auf ein früheres Gedicht des Autors: To Gerhardt, There, Among Europe's Things of Which He Has Written Us In His "Brief an Creeley und Olson".
Beispiel Nr. 4: The Maximus Poems, Seite 7 (vgl. Abb. 4). - Wie eine Treppe sind diese zweimal drei Strophen angeordnet. Die Gedanken des Autors bewegen sich von einer Erkenntnis zu anderen, gemäß der Maxime: »ONE PERCEPTION MUST IMMEDIATLY AND DIRECTLY LEAD TO A FURTHER PERCEPTION.« So gelangt der Sprecher zu tieferen und weitergehenden Einsichten, im Fall des Gelingens zu einem überzeugenden Versuch, die Konflikte und Widersprüche innerhalb seines Denkens zu lösen.»
Beispiel Nr. 5: The Maximus Poems, Seite 499 (vgl. Abb. 5). - Hier zeigt sich am ehesten das, was visuelle Poesie genannt werden kann. Die Zeile ist aus der gewohnten geometrischen Ordnung auf der Seite befreit. Die Worte werden graphisch / zeichnerisch angeordnet. Wie eine Rauchwolke steigt ein Gebet in die Höhe. Am oberen Ende bilden die folgenden Worte einen Kreis: »My beloved Father / turning this page to Right to write this poem in your Praise in counter clockwise Circle rest Beloved Father as Your Son...«  Der Gedanke findet im Text seine bildhafte Darstellung. Diese visuelle Art der Textgestaltung findet sich im Werk Olsons allerdings nur selten.
 
e) Syntax / Grammatik
Die Wirklichkeit ist nicht der Grammatik unterworfen. Folglich ist auch das Gedicht von ihr befreit. Und ebenso wie die starren Versfüße der alten Zeile werden die Regeln der Syntax (und auch der Grammatik im allgemeinen) gebrochen. Neue, ungeahnte Möglichkeiten ergeben sich. Wie weit der Dichter bei dieser Ausweitung gehen kann und darf wird nicht festgelegt. Wichtig auch hier allein der Glaube daran, daß Wahrheit und Schönheit im Gegenstand selbst liegen 23). Und diese Schönheit soll neu und erfrischend wirken:

It is my impression that all parts of speech suddenly, in composition by field, are fresh for both sound and percussive use, spring up like unknown, unnamed vegetables in the patch, when you work it, come spring. 24)
Wie der Dichter die neuen Möglichkeiten einsetzt, ist nicht willkürlich, bleibt nicht ihm überlassen, das ist abhängig vom Objekt (dem 'Ding') seines Schaffens.

f) Der Inhalt
Das Gedicht vereint das Objekt (s.o.) aus der Realität mit dem Subjekt des Dichters, der dadurch nicht mehr nur Medium, sondern Teil der Botschaft wird. Der Mensch, der sich selbst und damit seine Um-Welt so darstellt, trennt nicht mehr zwischen Objekt und Subjekt, und Begriffe wie Objektivismus und Subjektivismus verlieren ihren Sinn.

You can begin to make yourself master of materials which (my guess is) is EXACTLY THE SORT OF MATERIAL WHICH YOU  A R E - which you are INTERESTED in - which you will, ahead, BE COMMITED TO. 25)

Die Poetologie Olsons ist letztendlich eine Philosophie des Menschen. Das Gedicht stellt den Menschen wieder in den Zusammenhang der Natur. 26)

It comes to this: the use of a man, by himself and thus by others, lies down in how he conceives his relation to nature, that force to which he owes his somewhat small existence. If he sprawl, he shall find little to sing but himself, and shall sing, nature has such paradoxial ways, by way of artificial forms outside himself. But if he stays inside himself, if he is contained within his nature as he is participant in the larger force, he will be able to listen, and his hearing through himself will give him secrets objects share. And by an inverse law his shapes will make their own way. It is in this sense that the projective act, which is the artist's act in the larger field of objects, leads to dimensions larger than the man. For a man's problem, the moment he takes speech up in all its fullness, is to give his work his seriousness, a seriousness sufficient to cause the thing he makes to try to take its place alongside the things of nature. This is not easy. Nature works from reverence, even in her destructions (species go down with a crash). But breath is man's special qualification as animal. Sound is a dimension he has extended. Language is one of his proudest acts. And when a poet rests in these as they are in himself (in his physiology, if you like, but the life in him, for all that) then he, if he chooses to speak from these roots, works in that area where nature has given him size, projective size. 27)
 

6.2   Poesie und musa nihilistica

Es gibt nichts, das man als eine ausformulierte Poetik Rainer M. Gerhardts bezeichnen könnte. Verschiedentliche Äußerungen in Briefen an seine amerikanischen Freunde, die Beilage zu Heft 1 der Fragmente und dann (vor allem anderen) sein Rundfunkessay die 'maer von der musa nihilistica.' 28) Auf diesen Text soll vor allem unser Augenmerk gerichtet sein. Er liegt vor als Manuskript beim Hessischen Rundfunk, Abtlg. Abendstudio, die in diesen Jahren von Alfred Andersch geleitet wurde.

'die maer von der musa nihilistica' entspricht dem, was man später als Feature bezeichnet hat. Eigene und fremde Texte werden montiert und kommentiert. Am Ende der Lektüre haben wir eine Vorstellung von dem, was MODERNE POESIE sein kann und soll.

Wesentlichste Voraussetzung für eine Neue Poetik ist für Gerhardt eine Neue Kritik:

Das bewusstsein von einer neuen entwicklung schließt das Verlangen in sich, gewisse dinge, unbedingt für die arbeit am kunstding und am literarischen werk wichtig, neu zu ordnen. Es gibt kein bewusstsein von neuer dichtung ohne neue kritik. 29)

Daß Gerhardts kritisches Denken (und damit seine Poetik) entscheidend von Ezra Pound beeinflußt ist, zeigt sich schon nach der ersten Lektüre: zu Beginn der Maer von der musa nihilistica stehen Texte der 'großen Meister': Lu Chi, Confucius und Pound.

Pound leitet den zweiten Teil seines Essays 'Wie lesen' 30) mit einer Definition 'großer Literatur' (»Große literatur ist einfach sprache, bis zum äußerst möglichen grad mit bedeutung geladen.« und einer Unterscheidung der Dichter in Erfinder - Meister - Verwässerer - die von einem 'Stil' abhängigen - 'Schöngeister' - etc. ein. Gerhardt übernimmt diese Unterscheidung mit geringfügigen Korrekturen. Ebenfalls von Pound beeinflußt erschein» seine Unterscheidung von Stil und Manier. Wobei Stil für ihn eine Qualität 33) und Manier die »Anwendung gleichtechnischer Elemente, die Wiederholung oder Variierung der gleichen Elemente (...) [ist]. Manier kann Voraussetzung für Stil sein, oder auch Stilmittel.« Stil dagegen ist »Handschrift. Die Veränderungen, die Stil an Manier vornimmt sind die Veränderungen der lebendigen Handschrift am reinen Ornament.«
Dem Dichter stehen also zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, ein Kunstwerk zu schaffen: 1. aus der Kraft seines eigenen Ich (Stil) oder 2. aus den bereits vorhandenen (kulturellen, literarischen Möglichkeiten (Manier). 36) »Stil liegt eine gewisse Barbarei inne, eine gewisse Kraft, urweltlich und grausam.« Manier wird von Gerhardt allerdings nicht geringgeschätzt, ist aber in bestimmten Situationen weniger entscheidend. In sogenannten 'äußersten Situationen' ist Stil wichtiger. Also: Kraft statt Kultur; wobei diese Kraft selbstverständlich die Kultur als (Stil-)Mittel einsetzen kann.

Die Nachkriegszeit ist nach Gerhardts Meinung gekennzeichnt durch Nichtbeachtung der großen Meister des Stils. Es regiert das Sekundäre, das Mittelmaß, das Spiel mit den Stilmitteln, der Dichter ist der Tausendsassa, interessiert nur an der Brieftasche seiner Leser. 38)

Es gab eine Zeit, in der es als kühn und modern galt, alles an moderner Dichtung in sich hineinzufressen. Heute kommen sich verschiedene schwachköpfige Kreaturen als nationale Helden vor, wenn sie sich von neuer Dichtung kalauernd abwenden.39)
Wahrscheinlich nur für Eingeweihte erkennbar, können diese Sätze als Polemik gegen Gottfried Benn interpretiert werden. Denn der auf dieses Zitat folgende Text (Henri Michaux: Poésie pour Pouvoir), der auch im ersten Heft der fragmente enthalten ist, wurde von Gottfried Benn in seinem Vortrag Probleme der Lyrik (sicherlich als Seitenhieb auch gegen Gerhardt) als »eine Art Neutönerei«) bezeichnet und als überholt abgelehnt.
Worauf es Gerhardt ankommt, sind die »außerordentlichen Werke«, die, auf die nicht verzichtet werden kann. In einer Rezension des Benn'schen Gedichtbandes 'Statische Gedichte' wirft der diesem vor, 'schöne' Gedichte geschrieben zu haben, aber keine 'wesentlichten'._) Diese Kritik der Benn-Gedichte wird zurückgewiesen von Ernst Robert Curtius in seiner ansonsten äußerst wohlwollenden Rezension des erstes Heftes der Fragmente: »Benns Gedichte sind mehr als schön, sie sind mächtig - und darum wesentlich.«
Ein Dichter, der nur bereits vorhandene Formen benutzt, auch wenn er sie bis zur Meisterschaft vorantreibt und beherrscht, ist von keinerlei Interesse. Ein solcher Poet ist nur ein fleißiger Arbeiter, aber kein originärer Kopf. Er ist ein Sammler, kein Genie.

Das alles macht einen sehr schlechten Eindruck und man wird nicht umhin können, diesen Erzeugnissen wohl keinen zweiten Blick mehr zu schenken. Ich würde diesen Dingen keine weitere Aufmerksamkeit entgegengebracht haben, bestünde nicht 9/10 aller Poesie aus solchen Gebilden. 44)

Die 'Abrechnung' mit Gottfried Benn gewinnt die Qualität eines 'literarischen Vatermordes'. 45) Der Dichter auf den es ankommt, wird von Gerhardt als Mitglied einer Gemeinschaft gesehen, als zoon politikon. 46) Damit wird natürlich ein Widerspruch zur Benn'schen Position beschrieben, die von Gerhardt als 'nihilistische' bezeichnet und abgelehnt wird.

Was ist ein Dichter?

Was haben wir zuerst? Einen Menschen, der Gedichte schreibt. Was ist das: ein Mensch, der Gedichte schreibt? Erstens, ein Wesen, ein lebendiges Wesen, das eine bestimmte Konstitution besitzt und sich verhält. Zweitens: ein Wesen, das ganz bestimmte Verhaltensweisen besitzt, gebend - nehmend, es wird durch sein Verhalten geprägt und prägt sein Verhalten. Es gibt diesem Verhalten, das sich konstitutionell, materiell, ideell oder in sonstiger Weise manifestiert, artikulierten Ausdruck, und zwar in ganz bestimmter und vom Normalmenschen unterschiedlicher Weise. 47)

Dieses Wesen, das 'sich verhält', verhält sich nicht nur gegen sich selbst, sonder vor allem gegenüber seiner Umwelt. Anders als Benn, dessen Gedichte um nichts als den Autor kreisen, ist hier der Poet ein soziales Wesen. Benn ist in den Augen Gerhardts ein unpolitischer Dichter, der in seinem solipsitischem Nihilismus erstarrt. Das spezifisch Politische liegt für Gerhardt allerdings nicht nur in den Inhalten, sondern vor allem in der Form, im Machen. Es geht um neue Formen des Sehens, um eine Änderung der Wahrnehmungsstrukturen. »Es geht nicht mehr nur um poetische Dinge, jede Frage nach Poesie ist heute auch eine politische Frage.«) Es geht um »Sauberkeit, Klarheit und Genauigkeit, das ist aber auch zugleich die Kraft, weiterzuleben.«
Auf den Seiten 26 bis 30 seines Manuskripts versucht Gerhardt, seine Sicht des Menschen als einem 'Bündel Fakten' mit seiner Auffassung des Gedichtes als einem 'Bündel Fakten' in Übereinstimmung zu bringen. Er betont die unendliche Vielfalt der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten und fordert vom Gedicht die gleiche Vielfalt. Das bedeutet nichts anderes als das freie und durch nichts eingeschränkte Gedicht. So reich wie der Mensch, so reich sollte auch das ihn beschreibende und betreffende Gedicht sein.

Poesie muß also befreit werden von allen Einschränkungen, sei es formaler oder inhaltlicher Art. Der freie Vers, wie wir ihn von Charles Olson kennen, erscheint als die einzige Möglichkeit, dieser Sicht vom Mensch und vom Gedicht gerecht zu werden. Nicht von ungefähr werden in diesem Textabschnitt drei Gedichte eingefügt, die diese Forderung beispielhaft illustrieren: Klaus Bremer, Seegedicht - R.M.Gerhardt, Fragmente - Charles Olson, Lobgesänge.

Die allgemein und immer wieder erprobten Metren reichen nicht aus, der Fülle an emotionalem Material gerecht zu werden. Es geht nur durch die Auflösung in die emotionalen Teile, in die Einzelteile dieses Gefühlsbündels, d.h. ich reihe diesen Schnitt in die Zeit materialmäßig und formal so, dass die Bestandteile in Erscheinung treten. Die Komplexität einer Sache kann nur durch die Komplexität des Gedichts und nicht durch allgemeine und undeutliche Metren wiedergegeben werden. 50)

Diese Auffassung vom Gedicht vertritt nicht Beliebigkeit im Sinne eines 'Anything goes', sondern Genauigkeit, die nichts anderes als Schönheit ist.

Die Komplexität der Formen und Inhalte verträgt sich nun aber nicht mit dem Nihilismus Benn'scher Prägung. Denn diese Komplexität fordert die Hinwendung zum anderen Menschen, zur Gesellschaft. Es wird infolgedessen unterstellt, daß »das Werk eines Dichters die geistige Atmosphäre eines Volkes verändern kann.«) »
Viele dieser Gedanken vom Dichter als einem politischen Wesen entspringen bei Gerhardt einem Weltbild, das stark konfuzianisch geprägt ist. Nicht umsonst machte er die Pound'sche Fassung einer Konfuziusschrift zum Flaggschiff seiner 'schriftenreihe der fragmente'. Es ist die Auffassung vom

Mann, der in sich ruht
      der Ordnung hat in sich
      der die Wurzel hütet.
52)

Diese Auffassung von Dichtung redet von keiner irgendwie gearteten Nationalpoesie, denn diese würde die Möglichkeiten des Poeten einschränken. Dichtung kann nur dann bestehen, wenn sie sich ent-schränkt, ent-grenzt, und das bedeutet ein Hinausschauen über die engen Grenzen des eigenen Landes und der eigenen Sprache: Es bedeutet das, was Rainer M. Gerhardt zeit seines Lebens getan hat und wofür er immer wieder eingetreten ist:

...innerhalb von Dichtung spielt es keine Rolle, ob es sich um französische oder englische oder deutsche handelt, sondern ob überhaupt etwas da ist, das das Prädikat Dichtung oder besser gesagt Poesie verdient. 53)

Poesie kennt keine nationalen Grenzen, sondern nur die Grenzen, die dem Menschen durch die Natur aufgezwungen wurden.

Deutsche Dichtung hat es im grossen und ganzen bisher versäumt was Neues hinzuzufügen. Die Deutschen lieben Konformität, und es scheint auch für den Dichter ein Ärgernis zu sein, aus der bewährten Form auszuziehen, eine neue Position zu suchen und Versuche anzustellen. Der Untertan scheint zu allen Zeiten nicht allzufern von unseren Poeten zu Hause gewesen zu sein. 54)

Restauration ist das kennzeichnende Merkmal der Zeit (1952), und eine Poetik, die sich anschickt, Versuche anzustellen, um festgeschriebene Grenzen zu überschreiten, wird nicht gehört bzw. braucht eine lange Zeit, um gehört zu werden. Die praktizierten Formen und Konzepte (vgl. 2.2.2) sind nicht geeignet, den Forderungen der Zeit gerecht zu werden.

Gerhardt spricht in seiner Poetik nicht nur von sich als (vereinzeltem) Poeten, sondern im Namen einer Gruppe:

Die vorgetragene Kritik entspricht der Haltung einer Gruppe junger Autoren, von denen in Freiburg im Breisgau 'Fragmente, eine internationale Revue für moderne Dichtung' herausgegeben wird. Ihre Bemühung ist es, an Sprache zu arbeiten und die grösstmögliche Sauberkeit der Mittel zu erreichen. Sie versuchen, einen neuen Stil zu entwickeln, Montagestil, und auf dem Weg zu active writing das Gedicht mit Emotionen zu erlassen. Das Gedicht soll selbst eine emotionale Kraft sein. 55)

Ziel ist also der Ausgang des Poeten aus seiner selbstverschuldeten Isolation, die sich zwangsläufig aus dem Benn' schen Nihilismus ergibt, und der Übergang in die Gemeinschaft, in das unmittelbare Gespräch zweier oder mehrerer Poeten. Als Beispiel eines solchen poetischen Gesprächs fügt Gerhardt eine Gemeinschaftsarbeit an: Poeme Collectif von Klaus Bremer und Rainer Maria Gerhardt. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle auch auf das 'poetische Gespräch' mit Charles Olson. 56)
 
Anmerkungen:

1) Allen Ginsberg: Poetischer Atem und Pounds Usura, in: Schreibheft 27, Essen, April 1987, Seite 121 f.
2) William Carlos Williams: The Autobiography of William Carlos Williams, New York 1951, Seite 329 ff.
3) Helmut Heißenbüttel: Bruchstücke - nicht zu ergänzen,in: Die Welt der Literatur, Hamburg, vom 10.6.1965. - Vgl. auch die in Kapitel 7.1 zitierten Erinnerungen Heißenbüttels.
4) Rainer Maria Gerhardt im Brief vom 14.11.1950 an Charles Olson, in: Charles Olson & Robert Creeley: The Complete Correspondence, Vol. 4, Santa Barbara, Cal., 1982, nach Seite 68.
5) Zitiert wird nach Charles Olson: Human Universe and other Essays. Edited by Donald Allen, New York 1967, Seite 51-61.
6) Es war Olsons Art, seine theoretischen Texte aus mündlichen und brieflichen Äußerungen zu montieren. Die Folge ist, daß auch sie (wie die Gedichte) sowohl die Qualität der spontanen Äußerung wie auch der überlegten Reflexion haben. Die Veröffentlichung bedeutete für ihn nie das Ende der Arbeit am Text. Besonders in seinem Briefwechsel mit Robert Creeley wird deutlich, wie er auch nach der Publikation weiter an den Texten arbeitete und über sie nachdachte. Der Dialog mit Freunden war wesentlich, ja Voraussetzung für seine dichterische Arbeit.
7) Charles Olson: Projective Verse, a.a.O., Seite 51.
8) Vgl. A.a.O., Seite 52.
9) Ezra Pound / Ernest Fenollosa: NO - Vom Genius Japans, Zürich 1990, Seite 223-261.
10) Vgl. Charles Olson, a.a.O., Seite 52 und Charles Olson: Letter to Elain Feinstein, in: Charles Olson: Human Universe, a.a.O., Seite 95 .
11) Olson, Projective Verse, a.a.O., Seite 52.
12) A.a.O., Seite 55.
13) A.a.O., Seite 53.
14) Olson: Letter to Elain Feinstein, a.a.O., Seite 95.
15) A.a.O., Seite 96.
16) Charles Olson & Cid Corman: Complete Correspondence 1950-1964, Vol. I., Orono, Maine, 1987, Seite 42.
17) Olson: Projective Verse, a.a.O., Seite 54.
18) Vgl. a.a.O., Seite 53-54.
19) Vgl. a.a.O., Seite 55.
20) A.a.O., Seite 56.
21) Vgl. Paul Christensen: Charles Olson. Call Him Ishmael, Austin/London 1979, nach Seite 112.
22) Olson: Projective Verse, a.a.O., Seite 52.
23) Vgl. Olson: Letter to Elaine Feinstein, a.a.O., Seite 95.
24) Olson: Projective Verse, a.a.O., Seite 56-57.
25) Charles Olson & Cid Corman: Complete Correspondence 1950-1964, Vol. I, a.a.O., Seite 210.
26) Vgl. auch Olsons Ausführungen in seinem Essay 'Human Univers', in: Charles Olson: Human Universe and other Essays, New York 1967.
27) Olson: Projective Verse, a.a.O., Seite 60.
28) Rainer M. Gerhardt: Die Maer von der musa nihilistica, Frankfurt/M, Hessischer Rundfunk, Abendstudio, November 1952, Typoskript, 46 Seiten. (Umfassende Auszüge werden in einem Anhang zitiert.)
29) A.a.O., Seite 2.
30) Erza Pound: wie lesen, karlsruhe 1953.
31) A.a.O., Seite 18.
32) Rainer M. Gerhardt: Die Maer..., a.a.O., Seite 12 ff.
33) A.a.O., Seite 6.
34) A.a.O., Seite 7.
35) Ebda.
36) Vgl. a.a.O., Seite 8.
37) Ebda.
38) Vgl. a.a.O., Seite 9.
39) Ebda.
40) Gottfried Benn: Probleme der Lyrik, in: ders.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt/M 1989 (= Fischer Taschenbuch 5233), Seite 509.
41) Rainer M. Gerhardt: Die Maer..., a.a.O., Seite 10.
42) Vgl. Rainer M. Gerhardt: Rundschau der Fragmente, a.a.O., Seite 7.
43) Ernst Robert Curtius: Eine neue Zeitschrift: "Fragmente", in: Die Tat, Zürich, Nr. 195 vom 21.7.1971
44) Rainer M. Gerhardt: Die Maer..., a.a.O., Seite 12.
45) Vgl. Kapitel 3.1.2.
46) Vgl. Kapitel 4.2.
47) Rainer M. Gerhardt, a.a.O., Seite 17.
48) A.a.O., Seite 24.
49) Ebda.
50) A.a.O., Seite 27-28.
51) A.a.O., Seite 29.
52) A.a.O., Seite 30.
53) A.a.O., Seite 34-35.
54) A.a.O., Seite 36.
55) A.a.O., Seite 43.
56) Um Wiederholungen zu vermeiden, sei an dieser Stelle auf die Kapitel 3 bis 5 dieser Arbeit verwiesen, die ebenfalls (unter besonderen Gesichtspunkten) auf poetologische Äußerungen Gerhardts eingehen.