ÜBER DAS NACHLEBEN EINES DICHTERS In der Literaturszene der Zeit blieb der Tod Rainer Maria Gerhardts unbeachtet, abgesehen von den Würdigungen der Freunde: Alfred Andersch veröffentlichte einen Nachruf 1) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Hans Magnus Enzensberger schrieb das Gedicht Tod eines Dichters 2). Anders war es in den USA: The Pound Newsletter widmete ihre Oktoberausgabe 1954 dem Andenken des deutschen Dichters: It has been a year of achievement, but also it has been a year of loss, for on the 27th of July, Rainer Gerhardt, the young German poet and editor, died in Baden. In honor and in sympathy, we are dedicating this final issue of the year to Rainer Gerhardt. 3) Und doch gab es ein Nachleben, gab es immer wieder Versuche, auf das Werk Gerhardts hinzuweisen, es fortzusetzen. Von einigen dieser Versuche soll hier die Rede sein. 7.1 Das Nachleben Zwei Jahre nach Gerhardts Tod veröffentlichte Walter Höllerer in der Zeitschrift Akzente drei Gedichte aus dem Nachlaß des Dichters. 4) In einigermaßen regelmäßigen Abständen folgten weitere Veröffentlichungen (u.a. in Transit, Expeditionen, Widerspiel). 5) Eine repräsentative Sammlung seiner Gedichte und Briefe ist bis heute nicht erschienen, obwohl bereits Mitte der fünfziger Jahre Helmut Heißenbüttel den Versuch unternahm, Gerhardts Werk im Hamburger Claassen Verlag zu veröffentlichen: Ich habe mir damals die Bändchen und die beiden Hefte der Zeitschrift "Fragmente" gekauft, erinnere aber nicht, was mich darauf gestoßen hatte. Ich wurde zur Gruppe 47 eingeladen und erhielt im Anschluß an die Herbsttagung 1955 eine Anstellung im Claassenverlag in Hamburg, dessen Cheflektor derselbe Hans Georg Brenner war, der die Zeitschrift der Gruppe 47, "Die Literatur", 1952 redigiert hatte; empfohlen worden war ich zur Gruppe 47 durch Wolfgang Weyrauch. Ich ließ mir damals privat den Nachlaß von Rainer M. Gerhardt schicken, nahm das Konvolut mit in den Verlag und sprach Brenner darauf an. Die Reaktion war gespalten. Er sah, was mich reizte und argumentierte, soweit ich mich erinnere, etwa so: wenn das Ihr oder mein Verlag wäre, dann könnten wir vielleicht sowas machen, wahrscheinlich würde es schief gehn, aber man kann es nicht wissen; da wir aber beide Angestellte sind in einem Unternehmen, das uns nicht gehört und das auf Rentabilität achten muß, ist sowas nur eine Belästigung. Schicken Sie es so schnell wie möglich wieder weg. Was ich dann auch tat. 6) 1961 eröffneten Walter Höllerer und Gregory Corso ihre Anthologie Junge amerikanische Lyrik mit Charles Olsons Gedicht Der Tod Europas (vgl. 5.4 und 7.2). In seiner Serie Vergessene Bücher erinnerte Peter Härtling zum erstenmal im Jahre 1965 an den vergessenen deutschen Dichter: Einige Jahre nach dem Kriege, 1949 und 1950, gab es, scheint mir, eine Chance für die deutsche Lyrik, die sie nicht annahm, die sie, erfaßt vom Schwung der Repetition, nicht begriff. 7) Im gleichen Jahr wies Klaus Reichert mit Nachdruck auf Gerhardt hin.
In einem von ihm übersetzen und herausgegebenen Band mit ausgewählten
Gedichten Charles Olsons 8) erschien dessen »An Gerhardt, dort,...,« in den
Anmerkungen wurde Teil II von Gerhardts Brief an Creeley und Olson veröffentlicht
und im Nachwort auf die Fragmente aufmerksam gemacht, »dem zarten
Ansatz einer neuen Dichtung im Nachkriegsdeutschland« 9) In dem Nachwort
zu einem Auswahlband mit Gedichten Robert Creeleys schreibt Reichert:
Ein Jahr später machte Hans Galinsky die akademische Forschung auf die Vermittlungsbemühungen Gerhardts (hier insbesondere um das Werk William Carlos Williams) aufmerksam: Den ausländischen Informanten folgte 1951-52 der erste deutsche
Übersetzer. Der Lyriker Rainer Maria Gerhardt (1927-1954) veröffentlichte
im ersten gedruckten Heft - Heft 1 (1951) - seiner vorher nur mimeographierten
Freiburger Zeitschrift 'fragmente, internationale revue für moderne
dichtung' seine Übertragung von 'The R R Bums' aus Williams' Gedichtgruppe
'The Rat' (ca. 1950): Heft 2 (1952) brachte die Verdeutschung von 'The
Pink Church' (1959). Ein 24jähriger Deutscher aus Baden, dessen Rolle
als Vermittler neuerer amerikanischer Literatur an das Deutschland der
frühen Nachkriegsjahre noch der längstverdienten Würdigung
harrt, wählte zwei in 'The Collected Poems' (1950) aufeinanderfolgende
Nachkriegsgedichte des fast 70jährigen Williams aus, die in sehr persönlicher
Weise seine Haltung zur amerikanischen Gesellschaft und zur christlichen
Kirche aussprechen. Von diesen ersten Übersetzungen biegt der Weg
zurück zu Auskunft und Kritik. 11)
Ich verwahre zuhause die beiden Hefte von Rainer M. Gerhardts "Internationaler
revue für moderne dichtung" mit dem Titel "fragmente", meines Wissens
die einzigen. 1951 habe ich die "fragmente" abonniert, und die Hefte sind
mir teuer auch deshalb, weil ich als junger Student ihretwegen einige Mahlzeiten
habe ausfallen lassen. In den "fragmenten" habe ich, noch immer ebenso
schlecht informiert wie informationshungrig nach Krieg und Nachkriegszeit,
aufgewachsen in der Provinz, neben dem Ezra Pounds zum ersten Mal Namen
wie Charles Olson und William Carlos Williams gelesen, oder Robert Creeley,
dessen "Insel" Ernst Jandl dann sehr viel später übersetzt hat.
Ich habe den Namen Claus Bremer gelesen. Ich habe in der dem Heft 1 beigelegten
"Rundschau der Fragmente" Sätze gelesen wie: "Die heutige moderne
dichtung - soweit es die moderne dichtung innerhalb des deutschen sprachraums
betrifft - ist über die anfänge dieses jahrhunderts nicht hinausgekommen."
Sätze wie: "Es gibt - außer der bestsellernachahmung von 'Berlin
Alexanderplatz' - keine deutsche prosa, die die ergebnisse von Joyce aufnimmt
und weiterverarbeitet." Die Aussagen haben mich fasziniert. Die Texte in
den "fragmenten" habe ich Zeile für Zeile immer wieder abgeklopft.
Ich spürte den Ausläufer eines mir völlig unbekannten, ganz
anderen Kontinents von Literatur. 12)
1951 ergab sich der Kontakt zu Rainer M. Gerhardt in Freiburg, der damals gerade seine hektographierten "Fragmente. Blätter für Freunde" zu einer gedruckten Zeitschrift auszugestalten im Begriff war. Die Adresse erhielt ich von einem Freiburger Buchhändler, bei dem ich mit "META" 3 hausieren ging. Von den "Fragmenten" erschien 1952 eine zweite und letzte Nummer. Gerhardts besonderes Interesse galt der Vermittlung der amerikanischen experimentellen Literatur. Er übersetzte selbst Ezra Pound, Charles Olson, Robert Creeley. Ferner brachte er u.a. Michaux, Saint-John Perse, Claus Bremer und eigene Texte. Götz, Wittkopf und Gerhardt haben neben den Zeitschriften auch Bücher und Broschüren VERLEGT. Ihre Programme waren umfangreicher als die Mittel, und so ist manches Plan geblieben. 13) Die unbestritten wichtigste und umfassendste Arbeit für das Werk Rainer Maria Gerhardts leisteten Helmut Salzinger, Stefan Hyner und Peer Schröder. Ohne ihre Bemühungen wäre die vorliegende Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen. Im Oktober 1984 veröffentlichten Peer Schröder und Helmut Salzinger eine Collage, die alles bis dahin bekannte Material von und zu Gerhardt enthielt. 14) Vier Jahre später veröffentlichten Stefan Hyner und Helmut Salzinger eine umfangreiche Dokumentation aus Briefen, Gedichten und Essays Über das Nachleben eines Dichters. Rainer Maria Gerhardt. 15) Michael Braun machte in einem umfassenden Aufsatz die literarische Öffentlichkeit auf diese Dokumentation aufmerksam. 16) Innerhalb kürzester Zeit war diese vergriffen. Über die Schwierigkeiten bei ihrer Arbeit für das Werk Gerhardts haben die Herausgeber mehrfach berichtet. 17) Im gleichen Jahr wie die Dokumentation erschien eine Sammlung von Aufsätzen von H.J. Schütz, die, ähnlich den Bemühungen Peter Härtlings, versuchten, auf das Werk 'vergessener Dichter' aufmerksam zu machen. 18) Auffallend war und blieb dagegen die Resonanz im Bereich der amerikanischen Literatur und der Amerikanistik. 19) Auf drei Veröffentlichungen sei hier hingewiesen: zum ersten auf die bereits angezeigte Active Anthology (Teil II der auch in den USA erschienenen Dokumentation), zum anderen auf einen Nachdruck mehrerer Gedichte Rainer M. Gerhardts in amerikanischer Übersetzung in der Zeitschrift ADDRESS 20) und auf Heft 3 der Detroiter Zeitschrift WORK. 21) Zum Schluß dieses kurzen Überblicks über das Nachleben eines Dichters sei noch einmal Peter Härtling zitiert: Ich kann einfach nicht begreifen, wieso sich kein Verleger findet, der
das Gesamtwerk Gerhardts ediert. Es markiert einen Beginn: unseren, nach
dem zweiten Weltkrieg. Wir gehen mit dem, was wir haben könnten, übel
um. 22)
7.2 Spätere, vergleichbare Versuche Drei Anthologien versuchten in späteren Jahren in ihrer Zeit etwas von dem zu erreichen, was Gerhardt in seiner Zeit versagt blieb. Bereits während seines Studiums in Freiburg lernte Hans Magnus Enzensberger Rainer Maria Gerhardt kennen. Sechs Jahre nach Gerhardts Tod gab Enzensberger eine vielbeachtete Anthologie heraus: »Museum der modernen Poesie«. 23) Der Bogen war weitgespannt: Sechsundneunzig Dichter aus sechzehn Sprachen waren vertreten; der Zeitraum umfaßte die Jahre 1910 (erste Veröffentlichungen von E. Pound, W.C. Williams, Saint-John Perse, G. Benn, W. Majakowski, u.a.) bis 1945. Auch nach den Bemühungen Gerhardts (und anderer) war diese Sammlung immer noch ein Ereignis, da auch noch 1960 das deutsche Publikum mit der Sprache der modernen (Welt-)Poesie nicht übermäßig vertraut war. Die Impulse, die dieses Buch geben wollte, lassen sich am besten mit den Worten des Herausgebers wiedergeben. Sie werden hier etwas ausführlich zitiert, weil sie auch den Intentionen R. M. Gerhardts entsprechen: Das Phantom der modernen Poesie ist nur zu bannen, indem man sie selber
zitiert, sie vorzeigt als ein unabdingbares, als das jüngste und mächtigste
Element unserer Tradition. Diesem Zweck dient das gegenwärtige Museum.
Das Erscheinen von Höllerers Anthologie ('Junge Amerikanische Lyrik') markierte damals schon den zweiten Anlauf, das deutsche Gedicht mit den Errungenschaften der amerikanischen Moderne vertraut zu machen, nachdem um 1950 die Versuche des genialischen Dichters und Verlegers Rainer Maria Gerhardt am kulturellen Spießertum Adenauer-Deutschlands gescheitert waren. 26) Ähnlich wie Rainer Maria Gerhardt mit Robert Creeley konnte sich auch Walter Höllerer auf die Sachkenntnis eines amerikanischen Mitherausgebers stützen. Gregory Corso, von der Idee der Anthologie, die die amerikanische Lyrik um 1958 vorstellen sollte, begeistert, sammelte unermüdlich. Seine Idee, eine Sammlung mit Texten der BEAT-Generation einzurichten, gab er jedoch auf mit der Begründung: I hail no thing but poetry, so here is an anthology of some young American poets, some are Beat and some are not, and they are the ones I personally like. Long live Beat! Long live non-Beat! Long live everything! Poetry will always live. 27) Walter Höllerer stellte sich bewußt in eine Tradition: »Bald schon nach 45 gab es Kontakte der jungen deutschen Literatur mit den jungen Amerikanern. So brachte Rainer M. Gerhardt, der zu früh Verstorbene, in seiner Zeitschrift »fragmentekte der vorliegenden Anthologie allerdings nicht denkbar wären. Es gab Mitte der fünfziger Jahre in den USA eine Tradition, die zwar jung, aber doch schon gefestigt war. Die Gedichte von John Ashbery, Paul Blackburn, Robert Creeley, Lawrence Ferlinghetti, Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Frank O'Hara, Philip Whalen und den anderen Autoren der Sammlung sind nicht denkbar ohne die Vorarbeit, die William Carlos Williams, Ezra Pound, Hart Crane, Gertrude Stein und nicht zuletzt eben Charles Olson geleistet haben. Die Befreiung von den Zwängen der europäischen Tradition und die Arbeit an einer eigenständigen poetischen Sprache war bereits weit vorangetrieben, als Allen Ginsberg, der inzwischen wohl populärste Lyriker der Beat-Generation, mit den rhapsodischen Langzeilen seines Gedichtes Howl Aufsehen erregte: I saw the best minds of my generation destroyed by
Sicherlich sind hier auch europäische Einflüsse zu erkennen, vor allem die der modernen französischen Poesie; allerdings ist die Sprache mittlerweile eine, wie das Zitat belegt, unverkennbar eigene, amerikanische. Es sind Momentaufnahmen aus der Wirklichkeit, die der deutsche Leser in den Texten der Amerikaner finden kann. Beiläufige Wahrnehmungen werden verbunden entweder in stark rhythmisierten Langedichten oder bleiben scharf umrissen für sich stehen in präzis gearbeiten Kurzgedichten. Diesen beiden Gedichtformen wurden von zwei verschiedenen Dichtergruppen vertreten. Die Autoren der San Francisco-Schule, die sich der Tradition Whitmans verpflichtet fühlten, bevorzugten das lange Gedicht. Die andere Gruppe sah sich in der Nachfolge der Imagisten; sie konzentrierte sich um Charles Olson und das Black Mountain-College. 30) Von einem ganz anderen Impuls gingen 1969 Rolf Dieter Brinkmann und
Ralf-Rainer Rygulla aus, als sie die Anthologien ACID und 'Silverscreen' 31)
veröffentlichten. Sie wollten ein Gesamtklima vorstellen, das sich
nach dem Auftreten der Beat-Dichter in den USA herauskristallisiert hatte.
Nicht der auch in Deutschland durch Einzelpublikationen bekannte offizielle
Literaturbetrieb erregte ihr Interesse, sondern ein von ihnen so genannter
»voroffizieller Bereich«).
Drei Jahre später, am 24.12.1972, legt sich Brinkmann Rechenschaft ab darüber, warum er die Anthologie herausgegeben hat. Liest man seine Aufzeichnungen, so muß man zu dem Schluß kommen, daß sich die literarische Landschaft seit den Zeiten R. M. Gerhardts nur wenig verändert hat: kleinkariertes Festhalten am Überlieferten, Angst davor, den eigenen Horizont zu überschreiten, um zu sehen, was in anderen Literaturen geschieht. Provinzialismus scheint auch ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende das Hauptmerkmal deutscher Literatur zu sein: ...die USA-Dinger hätte ich gar nicht machen dürfen, und tatsächlich war das antreibende Motiv, daß ich sie herausgab, damit ich sie selber einmal lesen könnte, auf deutsch, ist das nicht lächerlich? Aber so ist es wirklich gewesen, als ich damit anfing - und dann, je mehr ich davon sah, kennenlernte, desto mehr habe ich mich auch erschrocken, was meine eigene Umgebung anbetraf, das literarische zeitgenössische Umweltfeld hier auf deutsch - wie steril, blaß leblos, entsinnlicht, unlebendig das ist - wie Anbau-Möbel, Prosa nach Schnittmusterbogen gefertigt, Erfahrungen, die so klein sind, ein Lebenshorizont, der nur noch dumpf und eng ist - auch die herzlose Art der Fertigung, das Verschwinden eines Selbstbewußtseins - was laufen denn überhaupt für Figuren in den Büchern herum? 34) Die drei kurz vorgestellten Anthologien zeigen einen Weg auf, den Weg,
den die amerikanische Poesie seit Anfang des Jahrhunderts genommen hat.
Die Grundlage hat Rainer Maria Gerhardt geschaffen, indem er 1948-54 die
'Väter' dieser Poesie vorstellte. Hans Magnus Enzensberger ergänzte
dieses Bild durch die amerikanischen Beiträge seines 'Museums'; Walter
Höllerer machte die deutsche Literatur mit den 'Söhnen' dieser
Väter bekannt; und Rolf Dieter Brinkmann erweiterte dieses Bild durch
seine Darstellung des subkulturellen Klimas in den USA der sechziger Jahre.
Auch heute gibt es vielfältige Versuche, diese von Rainer M. Gerhardt
begründete Tradition fortzusetzen. Es sind zumeist kleinere Verlage
und Zeitschriften, die sich dieser Aufgabe annehmen.
Anmerkungen
1) Alfred Andersch: Zum Tod Rainer M. Gerhardts, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, Frankfurt/Main, vom 15.9.1954; vgl. auch Kapitel 1.
Jeder Tag ein Geriesel von fahlen Papieren,
Jede Nacht die Umarmung der neun wilden Schwestern,
nichts als ein Brief von den blauen Tinten-
Aus: Verteidigung der Wölfe. Gedichte, Frankfurt/Main 1957,
Seite 60-61.
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