ÜBER DAS NACHLEBEN EINES DICHTERS

 

In der Literaturszene der Zeit blieb der Tod Rainer Maria Gerhardts unbeachtet, abgesehen von den Würdigungen der Freunde: Alfred Andersch veröffentlichte einen Nachruf 1) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Hans Magnus Enzensberger schrieb das Gedicht Tod eines Dichters 2). Anders war es in den USA: The Pound Newsletter widmete ihre Oktoberausgabe 1954 dem Andenken des deutschen Dichters:

It has been a year of achievement, but also it has been a year of loss, for on the 27th of July, Rainer Gerhardt, the young German poet and editor, died in Baden. In honor and in sympathy, we are dedicating this final issue of the year to Rainer Gerhardt. 3)

Und doch gab es ein Nachleben, gab es immer wieder Versuche, auf das Werk Gerhardts hinzuweisen, es fortzusetzen. Von einigen dieser Versuche soll hier die Rede sein.

7.1 Das Nachleben

Zwei Jahre nach Gerhardts Tod veröffentlichte Walter Höllerer in der Zeitschrift Akzente drei Gedichte aus dem Nachlaß des Dichters. 4) In einigermaßen regelmäßigen Abständen folgten weitere Veröffentlichungen (u.a. in Transit, Expeditionen, Widerspiel). 5) Eine repräsentative Sammlung seiner Gedichte und Briefe ist bis heute nicht erschienen, obwohl bereits Mitte der fünfziger Jahre Helmut Heißenbüttel den Versuch unternahm, Gerhardts Werk im Hamburger Claassen Verlag zu veröffentlichen:

Ich habe mir damals die Bändchen und die beiden Hefte der Zeitschrift "Fragmente" gekauft, erinnere aber nicht, was mich darauf gestoßen hatte. Ich wurde zur Gruppe 47 eingeladen und erhielt im Anschluß an die Herbsttagung 1955 eine Anstellung im Claassenverlag in Hamburg, dessen Cheflektor derselbe Hans Georg Brenner war, der die Zeitschrift der Gruppe 47, "Die Literatur", 1952 redigiert hatte; empfohlen worden war ich zur Gruppe 47 durch Wolfgang Weyrauch. Ich ließ mir damals privat den Nachlaß von Rainer M. Gerhardt schicken, nahm das Konvolut mit in den Verlag und sprach Brenner darauf an. Die Reaktion war gespalten. Er sah, was mich reizte und argumentierte, soweit ich mich erinnere, etwa so: wenn das Ihr oder mein Verlag wäre, dann könnten wir vielleicht sowas machen, wahrscheinlich würde es schief gehn, aber man kann es nicht wissen; da wir aber beide Angestellte sind in einem Unternehmen, das uns nicht gehört und das auf Rentabilität achten muß, ist sowas nur eine Belästigung. Schicken Sie es so schnell wie möglich wieder weg. Was ich dann auch tat. 6)

1961 eröffneten Walter Höllerer und Gregory Corso ihre Anthologie Junge amerikanische Lyrik mit Charles Olsons Gedicht Der Tod Europas (vgl. 5.4 und 7.2). In seiner Serie Vergessene Bücher erinnerte Peter Härtling zum erstenmal im Jahre 1965 an den vergessenen deutschen Dichter:

Einige Jahre nach dem Kriege, 1949 und 1950, gab es, scheint mir, eine Chance für die deutsche Lyrik, die sie nicht annahm, die sie, erfaßt vom Schwung der Repetition, nicht begriff. 7)

Im gleichen Jahr wies Klaus Reichert mit Nachdruck auf Gerhardt hin. In einem von ihm übersetzen und herausgegebenen Band mit ausgewählten Gedichten Charles Olsons 8) erschien dessen »An Gerhardt, dort,...,« in den Anmerkungen wurde Teil II von Gerhardts Brief an Creeley und Olson veröffentlicht und im Nachwort auf die Fragmente aufmerksam gemacht, »dem zarten Ansatz einer neuen Dichtung im Nachkriegsdeutschland« 9) In dem Nachwort zu einem Auswahlband mit Gedichten Robert Creeleys schreibt Reichert:
Creeley hat für Gerhardts fragmente zeitweilig als >associate editor< fungiert. Man kann nur mutmaßen, welchen Verlauf die neuere deutsche Lyrik genommen hätte, wenn Creeley länger auf >undone business< hingezeigt hätte, wenn Gerhardt nicht 1954 gestorben wäre. 10)

Ein Jahr später machte Hans Galinsky die akademische Forschung auf die Vermittlungsbemühungen Gerhardts (hier insbesondere um das Werk William Carlos Williams) aufmerksam:

Den ausländischen Informanten folgte 1951-52 der erste deutsche Übersetzer. Der Lyriker Rainer Maria Gerhardt (1927-1954) veröffentlichte im ersten gedruckten Heft - Heft 1 (1951) - seiner vorher nur mimeographierten Freiburger Zeitschrift 'fragmente, internationale revue für moderne dichtung' seine Übertragung von 'The R R Bums' aus Williams' Gedichtgruppe 'The Rat' (ca. 1950): Heft 2 (1952) brachte die Verdeutschung von 'The Pink Church' (1959). Ein 24jähriger Deutscher aus Baden, dessen Rolle als Vermittler neuerer amerikanischer Literatur an das Deutschland der frühen Nachkriegsjahre noch der längstverdienten Würdigung harrt, wählte zwei in 'The Collected Poems' (1950) aufeinanderfolgende Nachkriegsgedichte des fast 70jährigen Williams aus, die in sehr persönlicher Weise seine Haltung zur amerikanischen Gesellschaft und zur christlichen Kirche aussprechen. Von diesen ersten Übersetzungen biegt der Weg zurück zu Auskunft und Kritik. 11)
 
Anläßlich eines Sammelbandes über die Literatur der 50er Jahre erinnerten sich 1980 Heinrich Vormweg und Franz Mon an Rainer Maria Gerhardt:

Ich verwahre zuhause die beiden Hefte von Rainer M. Gerhardts "Internationaler revue für moderne dichtung" mit dem Titel "fragmente", meines Wissens die einzigen. 1951 habe ich die "fragmente" abonniert, und die Hefte sind mir teuer auch deshalb, weil ich als junger Student ihretwegen einige Mahlzeiten habe ausfallen lassen. In den "fragmenten" habe ich, noch immer ebenso schlecht informiert wie informationshungrig nach Krieg und Nachkriegszeit, aufgewachsen in der Provinz, neben dem Ezra Pounds zum ersten Mal Namen wie Charles Olson und William Carlos Williams gelesen, oder Robert Creeley, dessen "Insel" Ernst Jandl dann sehr viel später übersetzt hat. Ich habe den Namen Claus Bremer gelesen. Ich habe in der dem Heft 1 beigelegten "Rundschau der Fragmente" Sätze gelesen wie: "Die heutige moderne dichtung - soweit es die moderne dichtung innerhalb des deutschen sprachraums betrifft - ist über die anfänge dieses jahrhunderts nicht hinausgekommen." Sätze wie: "Es gibt - außer der bestsellernachahmung von 'Berlin Alexanderplatz' - keine deutsche prosa, die die ergebnisse von Joyce aufnimmt und weiterverarbeitet." Die Aussagen haben mich fasziniert. Die Texte in den "fragmenten" habe ich Zeile für Zeile immer wieder abgeklopft. Ich spürte den Ausläufer eines mir völlig unbekannten, ganz anderen Kontinents von Literatur. 12)

1951 ergab sich der Kontakt zu Rainer M. Gerhardt in Freiburg, der damals gerade seine hektographierten "Fragmente. Blätter für Freunde" zu einer gedruckten Zeitschrift auszugestalten im Begriff war. Die Adresse erhielt ich von einem Freiburger Buchhändler, bei dem ich mit "META" 3 hausieren ging. Von den "Fragmenten" erschien 1952 eine zweite und letzte Nummer. Gerhardts besonderes Interesse galt der Vermittlung der amerikanischen experimentellen Literatur. Er übersetzte selbst Ezra Pound, Charles Olson, Robert Creeley. Ferner brachte er u.a. Michaux, Saint-John Perse, Claus Bremer und eigene Texte. Götz, Wittkopf und Gerhardt haben neben den Zeitschriften auch Bücher und Broschüren VERLEGT. Ihre Programme waren umfangreicher als die Mittel, und so ist manches Plan geblieben. 13)

Die unbestritten wichtigste und umfassendste Arbeit für das Werk Rainer Maria Gerhardts leisteten Helmut Salzinger, Stefan Hyner und Peer Schröder. Ohne ihre Bemühungen wäre die vorliegende Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen. Im Oktober 1984 veröffentlichten Peer Schröder und Helmut Salzinger eine Collage, die alles bis dahin bekannte Material von und zu Gerhardt enthielt. 14) Vier Jahre später veröffentlichten Stefan Hyner und Helmut Salzinger eine umfangreiche Dokumentation aus Briefen, Gedichten und Essays Über das Nachleben eines Dichters. Rainer Maria Gerhardt. 15)

Michael Braun machte in einem umfassenden Aufsatz die literarische Öffentlichkeit auf diese Dokumentation aufmerksam. 16) Innerhalb kürzester Zeit war diese vergriffen. Über die Schwierigkeiten bei ihrer Arbeit für das Werk Gerhardts haben die Herausgeber mehrfach berichtet. 17)

Im gleichen Jahr wie die Dokumentation erschien eine Sammlung von Aufsätzen von H.J. Schütz, die, ähnlich den Bemühungen Peter Härtlings, versuchten, auf das Werk 'vergessener Dichter' aufmerksam zu machen. 18)

Auffallend war und blieb dagegen die Resonanz im Bereich der amerikanischen Literatur und der Amerikanistik. 19) Auf drei Veröffentlichungen sei hier hingewiesen: zum ersten auf die bereits angezeigte Active Anthology (Teil II der auch in den USA erschienenen Dokumentation), zum anderen auf einen Nachdruck mehrerer Gedichte Rainer M. Gerhardts in amerikanischer Übersetzung in der Zeitschrift ADDRESS 20) und auf Heft 3 der Detroiter Zeitschrift WORK. 21) Zum Schluß dieses kurzen Überblicks über das Nachleben eines Dichters sei noch einmal Peter Härtling zitiert:

Ich kann einfach nicht begreifen, wieso sich kein Verleger findet, der das Gesamtwerk Gerhardts ediert. Es markiert einen Beginn: unseren, nach dem zweiten Weltkrieg. Wir gehen mit dem, was wir haben könnten, übel um. 22)
 

7.2 Spätere, vergleichbare Versuche

Drei Anthologien versuchten in späteren Jahren in ihrer Zeit etwas von dem zu erreichen, was Gerhardt in seiner Zeit versagt blieb.

Bereits während seines Studiums in Freiburg lernte Hans Magnus Enzensberger Rainer Maria Gerhardt kennen. Sechs Jahre nach Gerhardts Tod gab Enzensberger eine vielbeachtete Anthologie heraus: »Museum der modernen Poesie«. 23) Der Bogen war weitgespannt: Sechsundneunzig Dichter aus sechzehn Sprachen waren vertreten; der Zeitraum umfaßte die Jahre 1910 (erste Veröffentlichungen von E. Pound, W.C. Williams, Saint-John Perse, G. Benn, W. Majakowski, u.a.) bis 1945. Auch nach den Bemühungen Gerhardts (und anderer) war diese Sammlung immer noch ein Ereignis, da auch noch 1960 das deutsche Publikum mit der Sprache der modernen (Welt-)Poesie nicht übermäßig vertraut war. Die Impulse, die dieses Buch geben wollte, lassen sich am besten mit den Worten des Herausgebers wiedergeben. Sie werden hier etwas ausführlich zitiert, weil sie auch den Intentionen R. M. Gerhardts entsprechen:

Das Phantom der modernen Poesie ist nur zu bannen, indem man sie selber zitiert, sie vorzeigt als ein unabdingbares, als das jüngste und mächtigste Element unserer Tradition. Diesem Zweck dient das gegenwärtige Museum.
Das Museum ist eine Einrichtung, deren Sinn sich verdunkelt hat. Es gilt gemeinhin als Sehenswürdigkeit, nicht als Arbeitsplatz. Richtiger wäre es, das Museum als Annex zum Atelier zu denken; denn es soll Vergangenes nicht mumifizieren, sondern verwendbar machen, dem Zugriff der Kritik nicht entziehen, sondern aussetzen. So verhält sich das literarische Museum zum Schreibtisch der gegenwärtigen produktiven Arbeit wie das Mittel zum Zweck. Daraus folgt, daß es keine endgültige Einrichtung zuläßt. Es ist kein Mausoleum, sondern ein Ort unaufhörlicher Verwandlung. Nur, wenn seine Ordnung dem Augenblick entspricht, kann es seine Aufgabe erfüllen: die Werke der Vergangenheit der bloßen Bewunderung ebenso wie der Vergessenheit und der Nachahmung zu entziehen. Sie sollen den Betrachter dazu herausfordern, sich an ihnen zu messen, ja ad liminem, sie produktiv zu verbrennen - ein Akt, aus dem das Alte immer von neuem phönixhaft hervorgeht. Das Museum als ein Ort der Tradition ist nicht Konsekration, sondern Herausforderung.
24)
Im letzten Satz finden wir einen deutlichen Bezug zu Gerhardt, für den ebenfalls die Tradition stets eine lebendige Grundlage seiner Vermittlungsarbeit war. Ein wichtiges Verdienst Enzensbergers war es, daß er mit seiner Arbeit den Nachweis des Vorhandenseins einer Weltsprache der Poesie liefern konnte: der Verfertiger moderner Poesie ist ein Dichter - »...zugeritten in manchen Sprachen...«»
Bereits ein Jahr später erschien eine weitere Anthologie, die sich, im Gegensatz zu Enzensbergers Sammlung, auf die neuere amerikanische Lyrik beschränkte. 25)

Das Erscheinen von Höllerers Anthologie ('Junge Amerikanische Lyrik') markierte damals schon den zweiten Anlauf, das deutsche Gedicht mit den Errungenschaften  der amerikanischen Moderne vertraut zu machen, nachdem um 1950 die Versuche des genialischen Dichters und Verlegers Rainer Maria Gerhardt am kulturellen Spießertum Adenauer-Deutschlands gescheitert waren. 26)

Ähnlich wie Rainer Maria Gerhardt mit Robert Creeley konnte sich auch Walter Höllerer auf die Sachkenntnis eines amerikanischen Mitherausgebers stützen. Gregory Corso, von der Idee der Anthologie, die die amerikanische Lyrik um 1958 vorstellen sollte, begeistert, sammelte unermüdlich. Seine Idee, eine Sammlung mit Texten der BEAT-Generation einzurichten, gab er jedoch auf mit der Begründung:

I hail no thing but poetry, so here is an anthology of some young American poets, some are Beat and some are not, and they are the ones I personally like. Long live Beat! Long live non-Beat! Long live everything! Poetry will always live. 27)

Walter Höllerer stellte sich bewußt in eine Tradition: »Bald schon nach 45 gab es Kontakte der jungen deutschen Literatur mit den jungen Amerikanern. So brachte Rainer M. Gerhardt, der zu früh Verstorbene, in seiner Zeitschrift »fragmentekte der vorliegenden Anthologie allerdings nicht denkbar wären.

Es gab Mitte der fünfziger Jahre in den USA eine Tradition, die zwar jung, aber doch schon gefestigt war. Die Gedichte von John Ashbery, Paul Blackburn, Robert Creeley, Lawrence Ferlinghetti, Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Frank O'Hara, Philip Whalen und den anderen Autoren der Sammlung sind nicht denkbar ohne die Vorarbeit, die William Carlos Williams, Ezra Pound, Hart Crane, Gertrude Stein und nicht zuletzt eben Charles Olson geleistet haben. Die Befreiung von den Zwängen der europäischen Tradition und die Arbeit an einer eigenständigen poetischen Sprache war bereits weit vorangetrieben, als Allen Ginsberg, der inzwischen wohl populärste Lyriker der Beat-Generation, mit den rhapsodischen Langzeilen seines Gedichtes Howl Aufsehen erregte:

I saw the best minds of my generation destroyed by
          madness, starving hysterical naked,
dragging themselves through the negro streets at dawn
          looking for an angry fix,
angelheaded hipsters burning for the ancient heavenly
          connection to the starry dynamo in the
          machinery of night,
who poverty and tatters and hollow-eyed and high sat up
          smoking in the supernatural darkness of cold-
          water flats floating across the tops of cities
          contemplating jazz,
who bared their brains to Heaven under the El and saw
          Mohammedan angels staggering on tenement roofs
          illuminated,
who passed through universities with radiant cool eyes
          hallucinating Arkansas and Blake-light tragedy
          among the scholars of war...
29)

Sicherlich sind hier auch europäische Einflüsse zu erkennen, vor allem die der modernen französischen Poesie; allerdings ist die Sprache mittlerweile eine, wie das Zitat belegt, unverkennbar eigene, amerikanische.

Es sind Momentaufnahmen aus der Wirklichkeit, die der deutsche Leser in den Texten der Amerikaner finden kann. Beiläufige Wahrnehmungen werden verbunden entweder in stark rhythmisierten Langedichten oder bleiben scharf umrissen für sich stehen in präzis gearbeiten Kurzgedichten. Diesen beiden Gedichtformen wurden von zwei verschiedenen Dichtergruppen vertreten. Die Autoren der San Francisco-Schule, die sich der Tradition Whitmans verpflichtet fühlten, bevorzugten das lange Gedicht. Die andere Gruppe sah sich in der Nachfolge der Imagisten; sie konzentrierte sich um Charles Olson und das Black Mountain-College. 30)

Von einem ganz anderen Impuls gingen 1969 Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla aus, als sie die Anthologien ACID und 'Silverscreen' 31) veröffentlichten. Sie wollten ein Gesamtklima vorstellen, das sich nach dem Auftreten der Beat-Dichter in den USA herauskristallisiert hatte. Nicht der auch in Deutschland durch Einzelpublikationen bekannte offizielle Literaturbetrieb erregte ihr Interesse, sondern ein von ihnen so genannter »voroffizieller Bereich«).
Ausgangspunkt war die literarische Produktion; hinzukamen dann allerdings auch essayistische Arbeiten über nichtliterarische Gegenstände: Musik, Film, Comics, Drogen, etc. Dieses Nebeneinander der verschiedensten Text- und Bildbereiche macht den Reiz des Buches aus. Es ist allerdings kein beliebiges Sammelsurium. Auch hier finden sich grundlegende Arbeiten, die inzwischen bereits wieder eine eigene Tradition begründet haben; z.B. essayistische Arbeiten von William S. Burroughs, Leslie A. Fiedler, Marshall McLuhan, Paker Tyler, u.a., wichtige Interviews mit John Cage, Andy Warhol und Frank Zappa, Lyrik und Prosa von Donald Barthelme, Ted Berrigan, Charles Bukowski, Michael McClure, Frank O'Hara, Anne Waldman u.v.a.
Hingewiesen werden soll auch auf den wichtigen Essay Der Film in Worten, den Rolf Dieter Brinkmann dem Buch mitgegeben hat. 33) Für eine vertiefte Kenntnis des 'amerikanischen Klimas' der sechziger Jahre ist er unverzichtbar.

Drei Jahre später, am 24.12.1972, legt sich Brinkmann Rechenschaft ab darüber, warum er die Anthologie herausgegeben hat. Liest man seine Aufzeichnungen, so muß man zu dem Schluß kommen, daß sich die literarische Landschaft seit den Zeiten R. M. Gerhardts nur wenig verändert hat: kleinkariertes Festhalten am Überlieferten, Angst davor, den eigenen Horizont zu überschreiten, um zu sehen, was in anderen Literaturen geschieht. Provinzialismus scheint auch ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende das Hauptmerkmal deutscher Literatur zu sein:

...die USA-Dinger hätte ich gar nicht machen dürfen, und tatsächlich war das antreibende Motiv, daß ich sie herausgab, damit ich sie selber einmal lesen könnte, auf deutsch, ist das nicht lächerlich? Aber so ist es wirklich gewesen, als ich damit anfing - und dann, je mehr ich davon sah, kennenlernte, desto mehr habe ich mich auch erschrocken, was meine eigene Umgebung anbetraf, das literarische zeitgenössische Umweltfeld hier auf deutsch - wie steril, blaß leblos, entsinnlicht, unlebendig das ist - wie Anbau-Möbel, Prosa nach Schnittmusterbogen gefertigt, Erfahrungen, die so klein sind, ein Lebenshorizont, der nur noch dumpf und eng ist - auch die herzlose Art der Fertigung, das Verschwinden eines Selbstbewußtseins - was laufen denn überhaupt für Figuren in den Büchern herum? 34)

Die drei kurz vorgestellten Anthologien zeigen einen Weg auf, den Weg, den die amerikanische Poesie seit Anfang des Jahrhunderts genommen hat. Die Grundlage hat Rainer Maria Gerhardt geschaffen, indem er 1948-54 die 'Väter' dieser Poesie vorstellte. Hans Magnus Enzensberger ergänzte dieses Bild durch die amerikanischen Beiträge seines 'Museums'; Walter Höllerer machte die deutsche Literatur mit den 'Söhnen' dieser Väter bekannt; und Rolf Dieter Brinkmann erweiterte dieses Bild durch seine Darstellung des subkulturellen Klimas in den USA der sechziger Jahre. Auch heute gibt es vielfältige Versuche, diese von Rainer M. Gerhardt begründete Tradition fortzusetzen. Es sind zumeist kleinere Verlage und Zeitschriften, die sich dieser Aufgabe annehmen.
 


Anmerkungen

1) Alfred Andersch: Zum Tod Rainer M. Gerhardts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt/Main, vom 15.9.1954; vgl. auch Kapitel 1.
2) Hans Magnus Enzensberger: Tod eines Dichters
                                                            (für Rainer M. Gerhardt)

 Jeder Tag ein Geriesel von fahlen Papieren,
 ein Spinnweb von Einflüsterungen,
 Ohren voll Kot deinem Mund nah,
 ein Dunst von Pfandleihen und Spitälern,
 von Treppenhäusern, fleckig wie
 das Bett eines geilen Flusses.
 ein grauer Schnee von Paragraphen auf dem Pflaster
 der Welt, und blutige Schuhe, und Streptokokken.

 Jede Nacht die Umarmung der neun wilden Schwestern,
 der Vampire, schönzüngig,
 ein Beischlaf mit neun Feuern, eine
 Verschwendung zum Tode.
 O eingeäscherter Phönix!
 Zeugung unbezeugt! Verkohltes Gedicht!
 Zerbrochener Flug! Nichts, was bliebe,

 nichts als ein Brief von den blauen Tinten-
 tränen eines Gewitters bedeckt,
 als ein tauber Zorn über den Dächern,
 als blinde Trauer, lahm in den Lenden,
 und dein Name, auf blanker Platte
 sich langsam läuternd
 zum Oxyd der Vergessenheit,
 vergessen von deinen neun schönen Geliebten,
 die deines Blutes satt
 jubelnd auffahren in ihre unsterbliche Wohnung.

 Aus: Verteidigung der Wölfe. Gedichte, Frankfurt/Main 1957, Seite 60-61.
3) Edwards, John (Hrsg.): The Pound Newsletter, Vol. IV, Berkeley, Cal., Oktober 1954, Seite 1.
4) Rainer M. Gerhardt: Seegedichte aus dem Nachlaß (fragmente - gleichgewicht - stimme), in: Akzente, München, 3. Jhg. (1956), Heft 3, Seite 197-199.
5) - fragment, in: Walter Höllerer (Hrsg.): Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, Frankfurt/Main 1956, Seite 146-147 - umkreisung, in: Wolfgang Weyrauch (Hrsg.): Expeditionen. Deutsche Lyrik seit 1945, München 1959, Seite 102-103 und in: Hans Bender (Hrsg.): Widerspiel. Deutsche Lyrik seit 1945, Darmstadt 1961, Seite 152-153.
6) Helmut Heißenbüttel: Literarische Archäologie der fünfziger Jahre, in: Dieter Bänsch (Hrsg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur, Tübingen 1985, Seite 317.
7) Peter Härtling: Rainer M. Gerhardt: »umkreisung« in: Die Welt der Literatur, Ham_burg, vom 14.10.1965.»
8) Charles Olson: Gedichte, Frankfurt/Main 1965 (= edition suhrkamp 112).
9) A.a.O., Seite 124.
10) Robert Creeley: Gedichte, Frankfurt/Main 1967 (= edition suhrkamp 227), Seite 163.
11) Hans Galinsky: William Carlos Williams. Eine vergleichende Studie zur Aufnahme seines Werkes in Deutschland, England und Italien (1912-1965); Teil I: Deutschland, in: Ernst Fraenkel (et al.): Jahrbuch für Amerikastudien, Band 11, Heidelberg 1966, Seite 96-175  -  Über RMG: Seite 105-106.
12) Heinrich Vormweg: Das Neue in der Literatur der fünfziger Jahre - ein Überblick, in: Jörg Drews (Hrsg.): Vom "Kahlschlag" zu "movens", München 1980, Seite 9-10.
13) Franz Mon: Meine fünfziger Jahre, in: Jörg Drews (Hrsg.): Vom "Kahlschlag" zu "movens", München 1980, Seite 42-43.
14) FALK. Loose Blätter für alles Mögliche, Ausgabe 9, Head Farm Odisheim, Oktober 1984: Rainer M. Gerhardt und die Zeitschrift 'Fragmente'. - Aus dem Inhalt: Charles Olson: Der Tod Europas - Diese Tage - An Gerhardt, dort, ... / W.C. Williams: The R R Bums - Die rote Kirche / R.M. Gerhardt: brief an Creeley und Olson / versch. Zitate und Kommentare u.a. von W. Höllerer, K. Reichert, G. Benn u.v.a. / Verlagsprospekt aus dem Jahre 1954 / Bibliographie.
15) Stefan Hyner & Helmut Salzinger: Leben wir eben ein wenig weiter. Über das Nachleben des Dichters Rainer Maria Gerhardt, Odisheim 1988.
Teil I:  Gedichte - Essays - Briefe
- Robert Creeley: For Rainer Gerhardt
- Hans Magnus Enzensberger: Tod eines Dichters
- Stefan Hyner: RMG, eine Begegnung auf der anderen
  Seite
- Ernst Robert Curtius: Eine neue Zeitschrift:
  "Fragmente"
- Helmuth de Haas: Späte Umkreisung der zwanziger Jahre.
  Eine Polemik
- Robert Creeley: aus: Black Mountain Review
- Robert Creeley: Rainer Gerhardt: Eine Notiz
- Anselm Hollo: fragmente
- Peter Härtling: Rainer Maria Gerhardt: "Umkreisung"
- Helmut Salzinger: Der Fall Gerhardt oder Geschichte
  einer Wirkung
- Rainer Maria Gerhardt: Briefe an Gottfried Benn und
  Charles Olson
- Charles Olson: Brief an R.M.Gerhardt (15.1.1951)
Teil II:  Active Anthology / Aktive Anthologie
Lyrik und Prosa von R.Creeley, C.Corman, E.Dorn, J.Kyger, P.Schröder, H.Hübsch, H.Salzinger, u.v.a.
...dem Andenken Rainer Maria Gerhardts gewidmet
Teil III:  Nachdruck von FALK 9 und WORK / 3 (s.u.)
 Teil IV:  Rainer M. Gerhardt - Bibliographie von HelmutSalzinger
16) Michael Braun: Die vergessene Revolution der Lyrik. Zur Aktualität von Rainer Maria Gerhardt und Werner Riegel, in: tageszeitung, Berlin, vom 12.10.1988.
17) Helmut Salzinger & Stefan Hyner: Der Dichter als Privatbesitz oder The Beat Goes On, in: ulcus molle info, Bottrop, Heft 7-9, 1988, Seite 74-79 - Helmut Salzinger: Schwarze Witwe. Des Falles Gerhardt anderer Teil, unveröffentlichtes Typoskript, 11 Seiten.
18) Hans J.Schütz: >Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen<. Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts, München 1988. - Der Artikel über Rainer M. Gerhardt findet sich auf den Seiten 76-80.
19) So z.B. immer wieder H. Galinsky: »Ein Untersuchungsthema ist längst reif: die Leistung, die in den jungen Jahren nach der Katastrophe der junge Karlsruher Lyriker Rainer Maria Gerhardt (1927-1954) als Übersetzer und Herausgeber der zunächst mimeographierten, dann, nach der Währungsreform, für kurze Zeit gedruckten Freiburger Zeitschrift fragmente. internationale revue für moderne dichtung vollbracht hat.
20) Variations on pervigilium veneris - Letter To Creeley And Olson - Valse Triste, in: Address, (Ed. Alan Jones), Vol. I, Nr. 2, July-August 1987, o.O., o.P.
21) Auch ihr Inhalt soll hier dokumentiert werden, da ihr Einfluß in Amerika mit Sicherheit von einiger Bedeutung gewesen sein dürfte:
 - Vorworte (Tom Raworth / John Sinclair)
- Robert Creeley: For Rainer Gerhardt
- Jonathan Williams: A Preliminary Note
- Robert Creeley: Rainer Gerhardt. A Note
- Rainer M. Gerhardt: Letter For Creeley And Olson
- Charles Olson: To Gerhardt, There, Among Europe's
  Things...
- Rainer M. Gerhardt: Fragments - from 'Hamlet's Death
  III' - Circumscription / Encircling - Valse Triste -
  Heavenly Song - Meditation - Cegestes - Voice
- Robert Creeley: Letter to Tom Raworth
- E.R. Curtius: A New Magazine: fragmente
- Anselm Hollo: fragmente
- Charles Olson: The Death of Europe
- Fotos (Ch.Olson - R.Creeley - J.Williams - R.Gerhardt
- R.M.Gerhardt)
22) Peter Härtling: Vergessene Bücher, Karlsruhe 1983, Seite 241.
23) Hans Magnus Enzensberger (Hrgs.): Museum der modernen Poesie, Frankfurt/Main 1960.
24) A.a.O., Seite 9.
25) Gregory Corso / Walter Höllerer (Hrsg.): Junge Amerikanische Lyrik, München 1961.
26) Michael Braun: Der freiere Atem der Poesie, in: Die Zeit, Hamburg, vom 25.3.1988.
27) Corso/Höllerer, a.a.O., Seite 254.
28) A.a.O., Seite 257.
29) Allen Ginsberg: Das Geheul und andere Gedichte, Wiesbaden 1959, Seite 8. - William Carlos Williams schrieb das Vorwort zu diesem Gedichtband: »Nehmen Sie die Säume Ihrer Gewänder hoch, meine Damen, wir gehen durch die Hölle.Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.
30) Vgl. Walter Höllerer, a.a.O., Seite 260.
31) Rolf Dieter Brinkmann & Ralf-Rainer Rygulla: ACID. Neue amerikanische Szene, Darmstadt 1969. - Rolf Dieter Brinkmann: Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik, Köln 1969
32) Vgl. Brinkmann/Rygulla: ACID, a.a.O., Seite 417.
33) A.a.O., Seite 381-399.
34) Rolf Dieter Brinkmann: Rom Blicke, Reinbek 1979, Seite 385-386.