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Karl Philipp Moritz
Es ist eine deutliche Beschreibung dessen, was unserer Sterblichkeit nur dunkel ahndet.
    Das Licht, worin sich uns das Schöne zeigt, kömmt nicht von uns, sondern fließt von dem Schönen selber aus und verscheucht auf eine Weile die Dämmerung um uns her.
    Darum fühlen wir beim Anblick des Schönen unser Herz und unsern Verstand erweitert, weil uns etwas von demjenigen sichtbar und fühlbar zu werden scheint, was immer unsern forschenden Gedanken sich entzieht, welche durch die schwachen Laute der Sprache nur mühsam ihren Kreislauf beschreiben und immer da in sich selbst wieder zurückfallen, wo sie ihren höchsten Gegenstand zu erreichen hofften.
    Je mehr wir nämlich überhaupt beim Anblick der Natur die Ursach in ihrer Wirkung, das innere Wesen der Dinge in ihren äußren Formen und Gestalten lesen, um desto befriedigter fühlen wir uns, und um desto vollkommner scheint uns das zu sein, was durch seine äußere Form zugleich sein inneres Wesen uns enthüllt.
    Eben darum rührt uns die Schönheit der menschlichen Gestalt am meisten, weil sie die inwohnende Vollkommenheit der Natur am deutlichsten durch ihre zarte Oberfläche schimmern und uns wie in einem hellen Spiegel auf den Grund unseres eigenen Wesens durch sich schauen läßt.
    Die Nacktheit selber, welche jeden Mangel aufdeckt und jedes andere Tier entstellet, ist bei dem Menschen das höchste Siegel der Vollendung seiner Schönheit, die allein ihrer Blöße sich nicht schämen darf, sondern wie die Wahrheit keinen andern Schmuck als sich selber kennt. Denn die Nacktheit selbst entsteht ja aus der vollkommensten Bestimmtheit aller Teile, wodurch alles Zufällige von der vollendeten Bildung ausgeschlossen wird und nur das Wesentliche auf der Oberfläche erscheint.
   Sobald die Bildung nicht in allen Teilen so vollkommen bestimmt und vollendet ist, daß sie das innre Wesen des Gebildeten allenthalben auf seiner Oberfläche durchschimmern läßt, findet auch bei der Entblößung keine eigentliche Nacktheit statt.
    Denn die letzte ins Auge fallende Oberfläche ist alsdann immer selbst schon wieder eine Art von Bekleidung, die das innere Wesen uns verdeckt - eben weil alsdann die Bildung nicht vollkommen bestimmt und in sich selbst vollendet ist, sondern durch den Auswuchs von Schuppen, Haar und Federn gleichsam über sich hinausgeht - und eben dadurch immer mehr an Schönheit und Bedeutsamkeit verliert, bis sie zuletzt in dem unbestimmtesten Wachstum der Pflanze die harte Rinde um sich herzieht, die den Schatz von Vollkommenheit, den sie umschließt, am neidischsten unserm Blick entzieht. So wie sich nämlich mit der zunehmenden Bestimmtheit alles Ungebildete dem Gebildeten nähert, so nähert sich auch mit der zunehmenden Zufälligkeit das Gebildete immer mehr dem Ungebildeten.  (...)
   Der Tropfen fällt dem Tropfen, der Staub dem Staube zu - aber das Gebildete fällt nicht zu sich selber, sondern ist nur insofern gebildet, als es durch die Bestimmtheit seiner Form sich aus seiner nächsten Umgebung sondert und das Zufällige von sich ausschließt.
    Das Unorganisierte hingegen, welches dem Unorganisierten zufällt, wird ungehindert mit ihm eins und zieht es mit sich zu Boden.
(...)
    Der Regen strömt in Tropfen, in Flocken fällt der Schnee herab, die zueinanderfallend in eine Masse sich verlieren.
    Die Zufälligkeit seiner Bildung drückt den harten Stein zur Erde nieder, und die Bestimmtheit ihrer Form treibt die Pflanze aus dem Schoß der Erde empor. . . . . . . . . . .