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Zitieren!

Habe ich überhaupt eine Ahnung von dem, was ich mache? Kann ich überhaupt über das, was ich schaffe, etwas sagen? Muß ich mir nicht immer wieder alles von anderen sagen lassen? Wer weiß denn noch, wo´s lang geht?
 

 Unser Nebeneinander. — Müssen wir es uns nicht eingestehen, wir Künstler, daß es eine unheimliche Verschiedenheit in uns gibt, daß unser Geschmack und andererseits unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche Weise für sich stehn, für sich stehn bleiben und ein Wachstum für sich haben — ich will sagen ganz verschiedne Grade und tempi von alt, jung, reif, mürbe, faul? So daß zum Beispiel ein Musiker zeitlebens Dinge schaffen könnte, die dem, was sein verwöhntes Zuhörer-Ohr, Zuhörer-Herz schätzt, schmeckt, vorzieht, widersprechen — er brauchte noch nicht einmal um diesen Widerspruch zu wissen! Man kann, wie eine fast peinlich-regelmäßige Erfahrung zeigt, leicht mit seinem Geschmack über den Geschmack seiner Kraft hinauswachsen, selbst ohne daß letztere dadurch gelähmt und am Hervorbringen gehindert würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes geschehn — und gerade dies ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit der Künstler lenken möchte. Ein Beständig-Schaffender, eine »Mutter« von Mensch, im großen Sinne des Wortes, ein solcher, der von nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines Geistes mehr weiß und hört, der gar keine Zeit hat, sich und sein Werk zu bedenken, zu vergleichen, der auch nicht mehr willens ist, seinen Geschmack noch zu üben, und ihn einfach vergißt, nämlich stehn, liegen oder fallen läßt — vielleicht bringt ein solcher endlich Werke hervor, denen er mit seinem Urteile längst nicht mehr gewachsen ist: so daß er über sie und sich Dummheiten sagt — sagt und denkt. Dies scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das normale Verhältnis — niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern — und es gilt sogar, um ein ungeheueres Beispiel zu nehmen, in bezug auf die ganze griechische Dichter- und Künstler-Welt: sie hat niemals »gewußt«, was sie getan hat . . .

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Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 369

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Wie geht es weiter? Wie schreiten wir voran? Wo ist die Methode? Wo finden wir Parallelen? Wo können wir lernen? Was ist das Ziel? Warum erstreben wir keine Einheit? Warum schreiben wir keinen Roman? Was kann ich tun?
 

 Im Anfang war das Zitat. Das »aus dem Zusammenhang gerissene« Wort nicht weniger als das einzelne, das vereinzelte Bild, das immer schon ein Zwischenbild ist. Das zerrissene Zitat. Godard behandelt mitunter, als sei dies möglich, Bilder wie Wortzitate, ja selbst »Natur« erscheint zitierbar (so in Nouvelle vague) wie eine Gedichtzeile. Aufgeschnappt, festgehalten, eingerückt. Zwischen andere. Er schiebt die Wörter zwischen die Bilder (und umgekehrt) und sprengt damit die narrative Klammer, die Konvention der Zwischentitel, indem er diese autonom setzt. Wie ein Typograph. Mise en scène, mise en page, mise en à l´écran. (Und er zeigt uns damit, jedesmal auf neue, welche Kraft in der Flammenschrift des stummen Films brachliegt.)
     Er läßt die Wörter aus dem Setzkasten springen, und wir betrachten ihre allmächliche Verfertigung wie die geisterhafte Schrift an der Wand von Nebukadnezars Halle. Als würde ein Plakat vor unseren Augen gedruckt, um uns unmittelbar zu affizieren. Die forcierte Nähe zur publicité, die willkommene >Verunreinigung< und Überdeterminierung der puren kinematographischen Bilder, hat uns früh gelehrt, auf die unentrinnbaren Anleihen zu schauen, und Godards Reflexion (seine sichtbare und seine unsichtbare Arbeit) hat uns gezwungen, die materiellen Reflexe einer bis dahin verpönten Ästhetik miteinzubeziehen. Doch sind diese Setzungen und wiederkehrenden Frakturen nie nur geistvolle Bilderrätsel, deren Auflösung am Ende das eine, verheißungsvolle Wort freisetzen würde, in das die voraufgehenden Wörter und Bilder als Verlußtmasse eingegangen und verbrannt sind. Vielmehr sind sie selbst die heterogenen Elemente, deren Komposition (Montage/Schnitt) erst den Blick auf die darin verarbeitete und produktiv entstellte Erinnerung freigibt. So entsteht ein neuer Zusammenhang, der die voraufgegangene Zerreißung noch als Spur bewahrt.

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Hanns Zischler: Dialog mit einem Dritten, Vorwort zu: Kaja Silverman / Harun Farocki: Von Godard sprechen, Berlin 1998, Seite 6
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