Bewußtsein / : Erinnerung / Vorgang: daß alle Wissensvermittlung und Vermittlung von Fakten und Übersichten in der Schule verstümmelt worden ist durch blöde Typen! /: vermittelt durch Ordnungen, die zu eng waren! /: 2)
Die Zeitschrift „Das Gedicht" veröffentlichte in ihrer Nr. 7 die aus einer Umfrage unter Autoren, Kritikern und Herausgebern hervorgegangene „Hitliste der Jahrhundertlyriker" 3). Rolf Dieter Brinkmann erreicht Platz 11 in der deutschen Abteilung, die (erwartungsgemäß?) von Gottfried Benn angeführt wird. Zwar sind solche Statistiken mit Vorsicht zu genießen, aber sie können doch einen ersten Eindruck einer Kanonbildung vermitteln, die für das abgelaufene Jahrhundert mittlerweile eingesetzt hat. Daß Brinkmann in diesem Kanon einen festen Platz hat, ist unbestritten. Spätestens nach seinem Gedichtband „Westwärts 1 & 2" kann man ihn den wichtigste(n) deutsche(n) Lyriker seiner Generation nennen. 4)
Als Pop-Poet gefeiert und angefeindet gründete sich sein Rang vor allem auf die von ihm herausgegebenen Anthologien „Acid" (1969) und „Silverscreen" (1969); sein eigenes Werke wurde auf den Roman „Keiner weiß mehr" (1968) und den Band „Die Piloten. Neue Gedichte" (1968) reduziert.
Nach dem Erscheinen seines Gedichtbandes „Gras" (1970) verabschiedete sich Brinkmann aus dem literarischen Betrieb der Bundesrepublik: (...) ich bin da ein Einzelgänger mit «Publizität» Ende der 60er Jahre (was jetzt vorbei ist, seither habe ich ja auch nichts mehr veröffentlicht, & der Band «Gras» ist den harten Literaturkriegern zu sanft gewesen und zu konfus. (S. 121) Er zog sich zurück zu umfangreichen Vorarbeiten zu einem zweiten Roman. Finanzielle Unterstützung bekam er durch Freunde und gelegentliche Stipendien, so z.B. von Herbst 1972 bis Sommer 1973 ein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom. In der ersten Jahreshälfte 1974 erfüllte sich ein lange gehegter Traum.
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Bis dahin waren „Silverscreen" und „Acid" ein Ersatz für das „wirkliche Amerika", nun entdeckt er, daß dieses Land wirklich dem Bild ähnelt, das er in seinen Anthologien vorgestellt hatte. Von Januar bis Mai des Jahres unterrichtete er auf Einladung A. Leslie Willsons als Gastlektor an der University of Texas in Austin. Dort schloß er Freundschaft mit dem Studenten Hartmut Schnell, der es geschafft hatte, aus Deutschland in die USA zu emigrieren. Man besuchte sich, machte ausgedehnte Ausflüge in die Umgebung, diskutierte (heftig) über Literatur und Musik. Nach Brinkmanns Rückkehr nach Köln setzte ein Briefwechsel ein, der an Intensität seinesgleichen sucht. Sorgfältig bewahrte er die Durchschläge seiner Briefe auf, kor-rigierte und ergänzte sie. Im Januar 1999 erschienen die Briefe Brinkmanns zusammen mit einer fiktiven Antwort Hartmut Schnells.
Es fällt schnell auf, daß es eigentlich nur zwei große Themenbereiche sind, die in diesen langen, immer wieder ergänzten und fortgeschriebenen Briefen abgehandelt werden: Der Haß auf die politischen und kulturellen Verhältnisse in der BRD, die Verkommenheit der Lebensverhältnisse in diesem Land, insbesondere in Köln — und — die Literatur.
Haß — so gut wie die Liebe — war e i n e der Triebfedern des lyrischen Schaffens Brinkmanns. Jede Einengung wurde von ihm unmittelbar und mit großer Geste beiseite gefegt. Das galt sowohl für tradierte lyrische Formen wie kulturelle Zwänge, wie sie durch das Schulsystem der 50er Jahre ausgeübt wurden. „Brinkmann stört wiederholt" — ist ein häufiger Eintrag in den Klassenbüchern. Daß und wie er selbst gestört und auch verstört wurde, ist in den Typoskriptbüchern seit „Rom, Blicke" nachzulesen. Seine Schimpfkanonaden sind Legion, auf sie soll hier nicht eingegangen werden, nur ein Beispiel:
Im ersten Brief an Hartmut Schnell (3.6.74) schreibt er: Lieber Hartmut, heute ist ein ganz mieser Tag draußen, bleich und regnerisch, und dazu noch einer dieser absolut öden verwahrlosten Feiertage auf deutsch, nämlich der 2. Pfingsttag, wo die ganze Öde der Umgebung und des sonstigen alltäglichen Lebens der Bundesrepublik und der deutschen Mentalität zum Vorschein kommt, so verrottet doof und brav-bürgerlich, das einem ganz schlecht werden kann, macht man die Augen auf, weil die Umgebung nur noch aus diesem elenden Kram besteht, überwiegend. (S. 7)
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In seinen Erinnerungen an Brinkmanns letzte Lebenstage in London berichtet Jürgen Theobaldy von dessen Plan, das abgebrochene Pädagogikstudium fortzusetzen und zu einem Abschluß zu bringen. Fachliteratur wurde gekauft. Ob dieser Versuch, eine materielle Basis zu finden, in die Tat umgesetzt worden wäre, steht in den Sternen. Es ist — bedenkt man Brinkmanns Temperament — nur sehr schwer vorstellbar: Trotzdem konnte ich ihn mir als Lehrer nicht denken, schon gar nicht als Beamten auf Lebenszeit. Dazu schien er viel zu ungeduldig, zu sprunghaft und zu gleichgültig, wenn nicht feindselig gegenüber allen Arten von Vermittlungen. Und der Gedanke an einen Job, an die morgendliche Fahrt in der Straßenbahn, grau im Gesicht, riß uns im Wohnzimmer von John James zu Lachsalven hin. 5)
Ein „blöder Typ" (s.o.) zu werden, wie er seine eigenen Lehrer in Vechta beschrieb, lag bestimmt nicht in Brinkmanns Absicht. Seine Vorstellungen orientierten sich vielmehr an freien Unterrichtsformen, wie er sie in den USA kennengelernt hatte. Schüler und Schülerinnen versuchten dort spontan zu Musik Gedichte zu schreiben. 6) Offene Kreativität war ihm wichtiger als vorgestanzte Formen. Wie nun kann man sich den Lehrer Brinkmann vorstellen, wie sah sein Unterricht aus? Der Schüler berichtet:
Brinkmann referierte in seinem Semester unter anderem über die
Einflüsse der neueren amerikanischen Lyrik und Prosa auf die zeitgenössische deutsche Literaturszene. Sein Vortrag war im Anfang stark akademisch orientiert, lockerte sich aber nach geringer Zeit und erlaubte dann ganz schnell lebhafte Diskussionen und Arbeitssituationen. Daß er am Ende des Semesters die Arbeit der Studenten mit Noten bewerten mußte, war natürlich völlig neu für ihn und brachte ihn zuerst etwas aus der Fassung. Die Lösungwar aber schnell zur Hand, jeder der Teilnehmer referierte über ein Thema im Rahmen des Seminars und zum Schluß, als kreativen Beitrag, schrieb jeder noch ein Gedicht.
Außer diesem Seminar hielt Brinkmann ein Kolloquium
in den Räumen der Abteilung, in dem er einmal die Woche zwei Stunden
aus seinem Werk las (Prosa oder Gedichte) mit anschließender Diskussion. Dort fanden sich Studenten sowie Professoren ein. Die Diskussionen waren meist sehr lebhaft und endeten auch manchmal in einem naheliegenden Café bei Bier und Wein.
Brinkmann fühlte sich mehr zu den Studenten als den
Professoren hingezogen und verbrachte viele Abende mit einigen von uns im Les Amie, einem Straßencafé, und in der Posse East, einem
Biergarten, beide in der Nähe der Uni, wo wir bis in die Nacht hinein
diskutierten und Bier tranken.
(...)
Die vielen gemeinsamen Stunden in Austin, in denen wir lachten, blödelten, diskutierten, schimpften und uns auch zankten
und der extensive Briefverkehr, der so offen und ungezwun-gen mich sein Lebenswerk und sein Privatleben entdecken ließ, änderten mein
Leben. 7)
Wie oft bekommt ein Lehrer einen solchen Satz zu hören?
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Wichtig für unseren Zusammenhang ist der zweite Themenbereich: die Literatur. Auffallend ist sofort der Ernst und die Konzentration, mit der hier Fragen aufgeworfen und beantwortet, Probleme erörtert und Lösungen gesucht werden. In seinem Haß auf die ‘Verhältnisse’ ist Brinkmann zügellos, in seiner Liebe zum Gedicht präzise und aufmerksam.
Hartmut Schnell erzählt Brinkmann von seinem Plan, eine Magisterarbeit über den Expressionisten Alfred Lichtenstein zu schreiben. Dieser ist begeistert, nicht nur weil er im Werk des jungen, früh verstorbenen Dichters Parallelen zu seinem eigenen Werk sieht; zwei Gründe sind es, die für ihn ausschlaggebend sind, die Arbeit seines Schüler-Freundes zu unterstützen: 1. Es gibt nichts über Lichtenstein — und — 2. Hartmut Schnell hat sich den Gegenstand seiner Ar-beit nach eigenem Interesse, nach eigener Lust ausgesucht. (S. 9) Auf elf Seiten notiert er erste Funde seiner Bemühungen: die wenigen Arbeiten über das Werk, kurze Inhaltsangaben wesentlicher Texte, Kommentare, Einschätzungen, etc. etc. Aus dem von Brinkmann zusammen-getragenen Material ließen sich mehrere Arbeiten entwickeln.
Noch während er an diesem Brief-Konvolut arbeitet erreicht ihn eine Postkarte Schnells, die alle zusammengetragenen Notizen „durchschüttelt". Statt einer Arbeit über Lichtenstein soll die Übersetzung einer Auswahl von Gedichten Brinkmanns entstehen, eingeleitet durch einen Essay des Übersetzers. Auch hier sofortige Zustimmung: Natürlich kannst Du meine beiden Gedichtbände übersetzen, also Dir würde ich sie gern geben, ganz einfach weil Du ein gutes Sprachempfinden hast und darüber hinaus Sprache gar nicht so wichtig nimmst, sondern die Projektion dahinter. (S. 25)
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In einer ersten großen Übersicht notiert er seine Erinnerungen an seine Bücher, vom ersten schmalen Lyrikheftchen bis zur letzten, mittlerweile nun auch schon vier Jahre zurückliegenden Veröffentlichung. Erste Einschätzungen werden vorgenommen, Verwandtschaften erkannt und bekannt gegeben: zum deutschen Expressionismus, zum fanzösischen Noveau Roman und — dies vor allem — zur neueren amerikanischen Lyrik. Gleichzeitig mit diesen Erinnerungen teilt er Schnell Quellen zur Sekundärliteratur mit. Umfassende bibliographische und biographische Angaben ergänzen die Notizen.
Es wird durchgehend deutlich, wie stark e i n Impuls das Schaffen Brinkmanns prägte und prägt: Einfachheit und Direktheit. Fast alle Gedichte sind wohl am genauesten zu charakterisieren als Momentaufnahmen, «snapshots», Schnappschüsse (wassn Wort! Schnapp & Schüsse!, siehe dazu die Bemerkung im Vorwort zu Piloten. (S. 44)
Nach dieser ersten Übersicht beginnt nun für Lehrer und Schüler die Arbeit am Detail. Die einzelnen Gedichte der drei größeren Sammelbände („Was fraglich ist wofür", „Die Piloten", „Gras") werden vorgestellt, Hintergrundinformationen, die dem ‘normalen Leser’ nicht zugänglich sind, mitgeteilt und Interpretationsansätze geliefert. Wichtig sind dem Autor in diesem Zusammenhang auch die Konzeptionen der Bücher, der bewußt gestaltete Aufbau, der jedes Gedicht in einen festgelegten Zusammenhang stellt. Gefährlich wird es für den Leser dieser Briefe immer dann, wenn er in die Versuchung kommt, eine Theorie des Gedichts aus diesen Aufzeichnungen zu filtern. Es gibt zwareine Ausnahme (vgl. S. 140-142), fragwürdig im Wortsinn auch sie, aber durchgehend handelt es sich um Fragmente, die sich nur sehr schwer einer Einheit unterordnen wollen.
Ich muß Dir an dieser Stelle sagen, daß mich Formfragen, Lautfragen (sowas wie Alliterationen usw. usw. usw.) nie beim Schreiben der Gedichte interessieren, also nicht die ausschließliche Beschränkung auf Sprachformen — da seid Ihr mit Eurem Studium und Wissen, was es alles gibt, mir total überlegen — mich interessieren viel mehr Eindrücke, was darin ist, und wie die Zusammensetzungen sind, die mich umgeben, konkret, außerhalb meiner eigenen sprachlichen Formulierungen zuerst, ich schau mir das oder das eben erst einmal an, ein Ereignis, ein Geschehen, und dann versuche ich das einfach nur zu sagen, — mehr kann ich nicht tun, und ich sehe (bis heute) auch gar keinen Sinn darin, ob das nun Alliterationen sind, Permutationen, eine retardierende Sprache oder was sonst immer, das Ergebnis solcher Betrachtung erscheint mir ganz unsinnig, und zeigt mir nur immer wieder, daß einmal gesetzte Wörter nur wieder Wörter hervorrufen, mehr nicht. Geht man aber weiter weg von den Wörtern, bei denen man anfing, die einen anregten, so kommt man zu einer eigenen Haltung, einem eigenen Eindruck ... (S. 71)
Es gibt immer zwei Extreme: Es gibt den Lehrer, der mit dem Lineal auf sein Pult klopft, um seinen Schülern den ‘Takt’ des Gedichtes einzu’bläuen’ und es gibt Lehrer wie Brinkmann, die versuchen ihren Schülern eine Haltung nahezulegen, eine e i g e n e Haltung, die ihnen ermöglicht in ein anderes Blau 8) zu gehen. Zwei Beispiele sollen zeigen, wie der Dichter-Lehrer seinem Schüler Gedichte nahebringt.
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Nach Shakespeare 9)
Die Winterhand fällt ab
und liegt im Garten, wo nun
ein hölzernes Gerüst errichtet
ist. Die dunklen Sommer
fallen wie die Hand.
Du frierst im Kopf.
Der Herbst mit seinen
toten Fischen auf dem
Grund der Flüsse ist
wie die Bude mit der alten
Frau, die sitzt und liest
die Tageszeitung, bis jemand
kommt und eine von den kalten
Frikadellen kauft, die in der
fettbespritzten Glasvitrine
liegen. Der Passant zahlt,
ißt, wirft den Knochen
nach dem unsichtbaren Engel.
Und Frühling kommt, verstreut
die Autolichter durch
blechernes Laub am Abend,
der mit den hölzernen Gerüsten
niedersinkt am Fluß.
Natürlich denkt hier jeder Lehrer zuerst einmal und sagt es so auch seinen Schülern: „Hier haben wir es mit einer Weise (einem Ton) zu tun, die sich an Shakespeare orientiert, seinen Stil, seine Haltung aufnimmt, um neue Inhalte zu transportieren." Das liegt nahe und er hat auch Recht; aber es gibt auch die andere Ebene, die einfachere und deshalb vielleicht nicht gerade naheliegendere. In den „Briefen an Hartmut" geht Brinkmann vor allem auf inhaltliche Aspekte des Gedichtes ein — und natürlich auch auf den Ton:
Shakespear?:ne olle Pommesfritesbude in´ner Seitenstrasse, wa? Shakespeare & Co, ne Schmökerbuchhandlung mit Erinnerungen? Hartmut, um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wo was bei Shakespear steht. Bin nie ins Theater gegangen. Las bloß mal einige Sonette und in der Schule einige Pflichtlektüren im Reclamheftchen. (S. 254)
Also ein Ton, den sich der Autor als Shakespeare-Ton denkt, vorstellt und „singt". Shakespeare hält er für klassisch, und klassisch sollte das Gedicht wirken, daher das genaue Metrum, das dem Text eine gewisse Strenge resp. ‘Abgehobenheit’ verleiht.
Schönheit kommt bei diesem Gedicht aus dem Kontrast zwischen dem angegebenen „hohen Ton" und den Bildern aus dem Alltag. Es handelt sich um eine Situation, die (fast) jeder schon unzähligemale erlebt hat und die nichts besonderes aufzuweisen hat. Es ist also hinter den Wörtern nichts zu finden, es ist die Oberfläche, die zählt:
Ich dachte mir, ich mach ein Straßenbild, eine alte Schnellimbißbude, wie Du sie wahrscheinlich auch aus München kennst, ißte abend schnell noch´ne Currywurst mit Pommes Frites, kurz nach 1, nachts Polizeistunde, oder nachmittags, beim Durchlatschen durch einen westdeutschen Vorort in der Großstadt, und irgendwie ist Herbst oder schon Winter, und bald, während du an den ollen Pommes Frites kaust, schauste durch das trübe Fensterglas, vorbei an dem Hähnchenautomat, nach draußen, und da fahren Autos usw. (S. 254)
Und dann tauchen Bilder auf, die irritieren, die nicht den den alltäglichen, banalen Zusammenhang zu passen scheinen: der Grund der Flüsse, der Knochen, der Engel, etc. Der Grund der Flüsse wird verglichen mit der Bude der alten Frau. Es ließen sich hier Assoziationen nahezu beliebiger Art anknüpfen in der Art: letzte Raststätte vor dem Acheron, da die Jahreszeit ja den ‘Herbst den Lebens’ nahelegt. Der Leser kann recht bekommen; dem Autor als Leser seines Gedichts geht anderes durch den Kopf:
Der Fluß überhaupt, ein Fluß, ist ja auchn olles Symbol, fließendes Leben, Joyce, Anna Livia Plurabelle, Finnegans Wake, (bei Shakespeare & Co, dem Buchladen der schwulen Gertrude Stein in Paris, eine Vorkriegshistorie usw. vorgelesen). (S. 254)
Fluß — Frau — Leben: das sind die drei Größen, die den Anfang des 8. Kapitels des Joy-ce´schen Nacht-Buches bilden, bei Brinkmann in den Erdenalltag zurückgeholt. Joyce und Shakespeare im Alltag: Jetzt stell Dir mal in so´ne Bude Shakespearesche Gestalten vor. Und Dich selber. Alles schäbig, du fluchst, wirfstnen Knochen ... usw. (S. 254) Und wir lesen eine Konfrontation des Alltags mit der Literatur und verstehen (evtl.) den Dichter, der, wenn er nicht Literatur und über Literatur schreibt, die häßliche Welt nur verabscheuen und verfluchen kann.
Sommer (Aus dem Amerikanischen) 10)
Da ist dieses Geräusch wie der Wind, fast total
vergessen in den Zweigen, seufzend
(oder sonstwas) „viel später"
Ein weißer Lastwagen, der zwischen den Gebüschen
des Highway entlangfährt, gesehen mit einem Grashalm
zwischen den Zähnen, im Gras liegend.
Niemand kann das übersetzen. Was ein Ding bedeutet,
und was runtergeht, (eine Blaupause, eine Sache)
zum Träumen. Du setzt es ab.
Was die Zeit bedeutet, ist ein Signal.
Dreckige Erde, steh auf! Und kaum gesehen, geteilt
zwischen den verschiedenen Orten, die Bäume
eines Waldes, genauso aufgeteilt, abstrakt
Zwischen dir und mir und zwischen allen dort
draußen ist diese Linie. Und die Phase der
Ausleuchtung (einige glänzende Tage) folgen.
Eine Reflexion, zB. seinen eigenen
Körper zwischen den hellen Gestrüppen aus
den Augen verlieren. Und zu sterben, ist eine
billige Sache (wie eine Konstruktion). Das meint
wenig, während zu leben viel ist, die Hitze
unerträglich, das Wasserloch zu kalt. Und
das tropfende Harz, (ein Schlager), die Zapfen
tropfender Tannen, Fantasien in weißen Turnschuhen,
das ist es, sobald du aufstehst, den
Grashalm ausspuckst und hinüber gehst.
Wieder, diesmal als Zusatz zum Titel, die Angabe des Tons, des ‘amerikanischen Tons’, wie wir ihn aus der Rock-Musik kennen. — Wir sehen Bilder in einem Rahmen, der die Strophen 1, 2 und 9 umfaßt: Ein Highway, ein weißer Lastwagen, das Geräusch des Windes in den Zweigen, eine Person (der Sprecher?) liegt im Gras mit einem Grashalm zwischen den Zähnen. Die letzte Strophe nimmt das Bild wieder auf, die ‘Person’ steht auf und ‘geht hinüber’, wohin — über den Highway vielleicht, in ein anderes Gedicht — keiner weiß es.
In diesen Rahmen werden einfache Beobachtungen und Reflexionen eingefügt wie sie jeder machen könnte, der an einem heißen Sommertag im Gras liegt. Sie sind beliebig, weil sie an einen konkreten Ort und an eine bestimmte Zeit gebunden sind, die dem Leser unbekannt sind und bleiben werden. Deshalb könnte er sich aufgefordert fühlen, das Gedicht neu zu schreiben, was hieße: sich an einem warmen Sommertag ins Gras legen, einen Grashalm ... So einfach können Gedichte sein: Vielleicht ist es mir aber manchnmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufmachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Mag sein, daß Deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen. 11)
Interessant in Brinkmanns Briefen ist hier die Beschreibung gewisser formaler Aspekte des Gedichts, insbesondere der Strophen 1 und 2. Um ein Beispiel für eine Erläuterung zu zeigen, sei hier ein Zitat eingefügt, in dem sich der Autor mit der Form-Inhalt-Problematik der Zeilen 1 und 2 auseinandersetzt:
Das Ende er ersten Gedichtzeile «fast total / vergessen» fährt durch den Bruch der Zeile (2. Zeile: vergessen) zweispurig ab.
Einmal ergibt die erste Zeile insgesamt für sich genommen einen
Sinn, und zum zweiten ist man aber auch gezwungen weiterzulesen und eben den in der ersten Zeile in sich abgeschlossenen Sinn durch die Fortsetzung in der zweiten Zeile zu verändern: ich meine: das Bild, der Eindruck, die Aussage der ersten Zeile sagt einen «fast absoluten Eindruck, oder eine Stimmung, Atmosphäre oder wie immer, (etwas modifiziert, nicht so total, weil ja in der zweiten 2. Strofe und im selben Moment der Empfindlichkeit und Wahrnehmung eben doch, in der Ferne einer Landschaft, in der Entfernung vom im Gras liegenden Betrachter, ein Lastwagen vorbeifährt), also deswegen nur fast «total» und die zweite Zeile zwingt den Leser diese nahe gelegte Totalität des momentanen sinnlichen Erfahrens von einem Geräusch bewegter Kiefern oder was immer, radikal zu verändern — — — — warum? Weil in der zweiten Zeile gesagt ist, daß man so ein sommerliches Geräusch in den Zweigen schon beinahe total vergessen
hat, während es für sich selbst beim Erfahren doch total ist. Jemand, der so entspannt daliegt, hat dieses Sommergeräusch beinahe
schon total vergessen gehabt. So kannst Du es sehen. — Das, diese zweispurigkeit geschieht nicht über ein Doppeldeutiges Wort oder eine Doppeldeutige Wortstellung, sondern diesmal einfach durch einen abrupten Bruch am Ende einer Zeile. (S. 251)
Dies könnte ein Muster sein, wenn es nicht sofort wieder zurückgenommen, relativiert würde:
(Hartmut, ich meine, das sind keine Tricks, und es sind nicht einmal bei mir Wortspielereien oder sowas, was ich sparsam zu benutzen versuche bei solchen «Formalismen» sind Gleichzeitigkeiten, Räume, jedenfalls sie anzudeuten für einen winzigen Moment.) (S. 251)
Gewiß: Die Formbetrachtung verstellt den Blick auf das „einfache, leichte Bild", das hier gezeichnet wird, und dem Leser wird die Möglichkeit genommen, sich an eigene Erfahrungen zu erinnern, sie zu vergegenwärtigen und sich ihrer zu erfreuen. Vielleicht auch aus diesem Grund schreibt Brinkman nicht ‘Philologie’, sondern ‘Viehlologie’: Niemand kann das übersetzen (Strophe 3, Zeile 1) bedeutet daher: Niemand kann einen solchen Glücksmoment übersetzen in Sprache, in einen sprachl. Ausdruck, wenn man das intensiv gelebt und erlebt und aufgenommen hat, so ein helles klares Moment im Sommer, absichtslos, ziellos) (S. 250)
Diese beiden Beispiele und die vielen anderen Erklärungs- und Interpretationsansätze des Buches könnten uns helfen, einen neuen Zugang zu Brinkmanns Werk zu finden, wenn wir den Dichter als Lehrer (und vor allem als Mensch) akzeptieren würden, was nicht immer leicht ist und auch nicht immer leicht gemacht wird.
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Die Umarmung. Das war mein erstes Buch. (Das zweite Erste Buch kommt jetzt erst wieder, Westwärts, Teil 1&2)./Dies ist die Nacht von Ostersamstag auf Sonntag, in BRD. (S. 273)
Das „zweite Erste Buch" blieb allein. Am 23. 4. 1975 starb Rolf Dieter Brinkmann kurz vor der Auslieferung seines Gedichtbandes an den Folgen eines Autounfalls in London.
Anhang: Ein Statement Rolf Dieter Brinkmanns
1) Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Harmut, Reinbek: Rowohlt Verlag 1999. - Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den vorliegenden Band.
2) Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung
des Gefühls für einen Aufstand: Träume. Aufstände / Gewalt / Morde REISE ZEIT MAGAZIN Die Story ist schnell erzählt, Reinbek: Ro-wohlt Verlag 1987, Seite 253.
3) Anton G. Leitner (Hrsg.): Das Gedicht, Zeitschrift für Lyrik,
Essay und Kritik, Nr. 7, Weßling b. München Oktober 1999,
Seite 100.
4) Kaspar H. Spinner: Rolf Dieter Brinkmann: »Westwärts 1 & 2«, in: Hans Vilmar Geppert (Hrsg.): Große Werke der Weltliteratur III, Tübingen und Basel: Francke Verlag 1993, Seite 211.
5) Jürgen Theobaldy: Bevor die Musik vorbei ist. Zu Rolf Dieter
Brinkmann, in: Martin Lüdke / Delf Schmidt: Rowohlt Literaturmagazin
15: Die Aufwertung der Peripherie, Reinbek: Rowohlt Verlag 1985, Seite 14.
6) Theobaldy, ebda.
7) Hartmut Schnell: 1974 — 75, in: Maleen Brinkmann (Hrsg.): Rolf Dieter Brinkmann, Literaturmaga-zin, Sonderheft, Nr. 36, Reinbek: Rowohlt Verlag 1995, Seite 122 u. 124.
8) Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2, Reinbek: Rowohlt
Verlag 1975, Seite 41.
9) A.a.O., Seite 175.
10) A.a.O., Seite 23.
11) A.a.O., 7.