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Luis Buñuel – Irritationen und verkehrte Welt


Oberflächlich gesehen ist diese verkehrte Welt so das Gegenteil der ersten, daß sie dieselbe außer ihr hat und jene erste als eine verkehrte Wirklichkeit von sich abstößt, daß die eine die Erscheinung, die andere aber das Ansich, die eine sie ist, wie sie für ein Anderes, die andere dagegen, wie sie für sich ist; so daß, um die vorigen Beispiele zu gebrauchen, das süß schmeckt, eigentlich oder innerlich am Dinge sauer, oder was am wirklichen Magnete der Erscheinung Nordpol ist, am innern oder wesentlichen Sein Südpol wäre; was an der erscheinenden Elektrizität als Sauerstoffpol sich darstellt, an der nichterscheinenden Wasserstoffpol wäre. Oder eine Handlung, die in der Erscheinung Verbrechen ist, sollte im Innern eigentlich gut sein (eine schlechte Handlung eine gute Absicht haben) können, die Strafe nur in der Erscheinung Strafe, an sich oder in einer andern Welt aber Wohltat für den Verbrecher sein.
 (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 1973. Seite 129)

Themen:

1. Die wirkliche Welt – oder: Ein guter Schnitt
   ("Ein andalusischer Hund")
   These: Der Film ist Teil der wirklichen Welt und nicht ihr Gegenüber.
2. Die verkehrte Welt – oder: Was ist Wahrheit?
   ("Die Milchstraße", u.a.)
   These: Das Beste an der Religion ist, daß sie Ketzer hervorbringt. (E.Bloch)
3. Irritationen und Obsessionen
   (Streifzug durch versch. Filme)
   These: Ziele können nicht erreicht werden; Wiederholungen werden zum Geheimnis.
4. Respekt und Solidarität – und nicht: Blasphemie
   ("Viridiana")
   These: Ein Film voller Poesie und Mitgefühl – unverstanden / verfolgt.
5. Luis Buñuel – oder: Das Auge des Jahrhunderts
    Versuch einer Würdigung


Literatur:

° Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer, Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1983 (jetzt: Ullstein Taschenbuch Verlag, Berlin 1999)
° Luis Buñuel: Die Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle, Wagenbach Verlag, Berlin 1991
° Luis Buñuel: Die Erotik und andere Gespenster. Nicht abreißende Gespräche mit Max Aub, Wagenbach Verlag, Berlin 1992
° Luis Buñuel: Objekt der Begierde, Wagenbach Verlag, Berlin 2000
° Freddy Buache: Luis Buñuel, The Tantivy Press, London 1973
° Peter Nau: Das goldene Zeitalter des Tonfilms, in: Filmkritik Nr. 174, München, Heft 6/1971, Seite 293-308
° Michael Schwarze: Buñuel, Rowohlt Verlag (rowohlt monographie 292), Reinbek 1981
° Yasha David (Hrsg.): ¿BUÑUEL! Auge des Jahrhunderts, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1994
 
 
Buñuel, Luis (1900-1983), spanischer Filmregisseur. Buñuel wurde am 22. Februar 1900 in Calanda (Provinz Aragón) geboren und studierte nach dem Besuch einer Jesuitenschule Literatur und Philosophie in Madrid. Hier lernte er Ortega y Gasset kennen und schloss Freunschaft mit Federico García Lorca und Salvador Dalí. Nach Abbruch seines Studiums ging er 1925 nach Paris, wo er sich an der Academie du Cinema einschrieb. Bald arbeitete er als Regieassistent bei Jean Epstein und Mario Nalpas. 1928 ließ sich auch Dalí in Paris nieder, und in gemeinsamer Arbeit realisierten sie, finanziert durch Buñuels Mutter, den 24-minütigen Avantgardefilm Ein andalusischer Hund (1928), ein Meisterwerk, das mit seiner bizarren, assoziativen Bildersprache auch heute noch nichts von seiner verstörenden Kraft eingebüßt hat. Berühmt wurde die Anfangsszene, bei der ein Mann das Auge einer Frau mit einem Rasiermesser durchschneidet. Das Werk, das bei seiner ersten Aufführung von den Surrealisten gefeiert wurde, führte dazu, dass er in den Kreis der surrealistischen Künstler um André Breton, Louis Aragon und Max Ernst aufgenommen wurde.
Erneut in Zusammenarbeit mit Salvador Dalí und unter dem Einfluss des Surrealismus entstand in der Folge Das goldene Zeitalter (1930). Die alptraumhaften Bilder des Films lösten einen Skandal aus, der Film wurde zurückgezogen und seine Aufführung verboten. Anfang 1931 hospitierte Buñuel bei der MGM in Hollywood, wo er mit einigen Größen des amerikanischen Films zusammentraf, z. B. mit Charlie Chaplin. Nach Europa zurückgekehrt, drehte er in Spanien Land ohne Brot (1932), einen sozialkritischen Film über das Elend der Bevölkerung in einer armen spanischen Provinz. Auch die Vorführung dieses Streifens wurde verboten. Anschließend ging Buñuel nach Amerika und synchronisierte Spielfilme für verschiedene Produktionsfirmen, und er wirkte bei den Dreharbeiten zu Madrid ’36 (1937) mit, einem Dokumentarfilm über den Spanischen Bürgerkrieg. Nach einer Produzententätigkeit bei Warner Bros. 1949 und vergeblichen Versuchen, sich in Hollywood als Regisseur zu etablieren, übersiedelte er nach Mexiko, wo er in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre eine ganze Reihe von Filmen drehte. Die herausragenden Werke dieser Periode sind Die Vergessenen (1950), ein desillusionierter Film über das Leben in den Slums von Mexiko-Stadt, El Bruto (1952), die eigenwillige Defoe-Verfilmung Robinson Crusoe (1952) und Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz (1955). Es folgte Nazarin (1958), ein Film über einen jungen Priester, der erkennen muss, dass die christlichen Werte wie Barmherzigkeit wenig fruchten, wenn die sozialen Missstände nicht beseitigt werden. Doch auch die weniger ambitionierten Werke seiner mexikanischen Phase lassen die Handschrift des Meisterregisseurs erkennen. In Spanien drehte Buñuel 1961 Viridiana. Der Film erzählt in suggestiven Bildern die Geschichte einer jungen Novizin (Silvia Pinal), die erkennen muss, dass sie den hohen Idealen des christlichen Wertesystems in ihrem Leben nicht gerecht werden kann. Der Streifen wurde im Spanien des Franco-Regimes sofort verboten. Bei den Filmfestspielen in Cannes 1961 wurde er mit der Goldenen Palme prämiert.
Der Würgeengel (1962) erzählt die Geschichte einer Abendgesellschaft, deren Mitglieder aus mysteriösen Gründen einen Raum nicht verlassen können und die daraufhin in dieser Ausnahmesituation die Fassade ihrer bürgerlichen Wohlanständigkeit aufgeben. Ab 1963 drehte Buñuel wieder in Frankreich. Es entstanden mehrere Filme, die die Verlogenheit der bürgerlichen Wertvorstellungen und ihre repressive Sexualmoral zum Thema haben. Den Auftakt bildet Tagebuch einer Kammerzofe (1964) mit Jeanne Moreau in der Hauptrolle. Simon in der Wüste nimmt die religiöse Thematik von Nazarin und Viridiana wieder auf. Belle de jour (1967) ist ein Film über sexuelle Obsessionen, erzählt in rätselhaften Bildern von großer visueller Kraft, bei dem sich die Ebenen von Traum und Realität verwischen. Der Streifen erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus dem Bürgertum (Catherine Deneuve), die sich als Prostituierte verdingt, um ihre unterdrückten sexuellen Bedürfnisse ausleben zu können.
Die Reihe von Filmen mit dieser Thematik setzt sich fort in Die Milchstraße (1969), Tristana (1970), Der diskrete Charme der Bourgeoisie (1972, Oscar-Auszeichnung als bester ausländischer Film) und Das Gespenst der Freiheit (1974). All diese Filme stellen die Wertewelt des Bürgertums in Frage und sind in ihrer einfachen, aber eindrucksvollen Bildsprache ästhetische Meisterleistungen. Sie begründeten Buñuels Ruhm als einem der bedeutendsten Regisseure der Filmgeschichte. Sein letzter Film, Dieses obskure Objekt der Begierde (1977), erzählt von einem wohlhabenden älteren Mann, der vergeblich versucht, die Liebe eines jungen Mädchens zu gewinnen. In den Hauptrollen sind Fernando Rey, Carole Bouquet und Angela Molina zu sehen. 1982 veröffentlichte Luis Buñuel seine Memoiren unter dem Titel Mon dernier soupir (1983; Mein letzter Seufzer). Er starb am 29. Juli 1983 in Mexiko-Stadt. 
Verfasst von:  Harald Grätz
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