Der folgende Vortrag wurde
gehalten am 19.12.2000 an der Universität Augsburg im Rahmen der Reihe
>Hispanicum. Offenes Seminar zur spanischen Kulturgeschichte<. Er wurde veröffentlicht in: "Hispanorama. Zeitschrift des Deutschen Spanischlehrerverbandes" Nr. 95, Nürnberg, Februar 2002. |
HandOut
(oder - besser: HandZettel) zum Vortrag.
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Internet
(eine recht informative Seite aus den USA (Berkeley) mit vielen Hinweisen
und Tips.
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Die im Text des Vortrags
angeführten Abbildungen können durch einen Klick auf das angezeigte
Symbol
aufgerufen und angeschaut werden. Die Abbildungen sollen einen (ersten)
Eindruck verschafffen - mehr nicht. |
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Ich war stets auf der
Seite derjenigen, die die Wahrheit suchen, doch ich wende mich von ihnen
ab, wenn sie die gefunden zu haben glauben. Sie werden dann oft Fanatiker,
was ich verabscheue, oder Ideologen. Ich bin kein Intellektueller, und
ihre Rhetorik schlägt mich in die Flucht. Wie alle Rhetorik. Für
mich ist der beste Redner derjenige, der beim ersten Satz die Pistole zieht
und auf das Publikum schießt. (1)
— so spricht das bemerkenswerte
Objekt des heutigen Abends. Die Tatsache, daß ich nicht auf Sie schieße
erbittet Ihre Verzeihung für die Mängel der nun folgenden Rede
(Ich werde hier selbst eine Mängelliste eröffnen, fügen
Sie bitte Ihre Beobachtungen hinzu.).
Oder — anders gesagt: Falls
Sie die gewiß vorhandenen Mängel nicht entschuldigen wollen,
bin ich leider gezwungen auf Sie zu schießen . . . |
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1. Die wirkliche Welt — oder: Ein guter
Schnitt
Lassen Sie mich beginnen
mit der Abwandlung eines Zitats von Arno Schmidt: „Was ist die wirkliche
Welt anderes als eine Karikatur unserer großen Filme." Dieses abgewandelte
Zitat deshalb, weil es hier um die „andere, verkehrte Welt des Films" gehen
soll; andere Welt deshalb, weil hier (wie in allen Künsten) Welt komprimiert
gezeigt wird gemäß der Maxime: »Kunst ist Wirklichkeit
auf die Spitze getragen«; verkehrte Welt deshalb, weil der Autor,
um den es geht, in einem grandiosen Gegenentwurf, z.B. in der »Milchstraße«
zeigt, wie unsere Welt (wie in einem Spiegel) wirklich beschaffen ist.
— Soviel zum Lernziel.
37 große und kleine
Filme umfaßt das Lebenswerk Luis Buñuels, geschaffen in 48
Jahren, gerahmt wird es durch ein Bild:
Die sechste Einstellung des
Drehbuches zu dem Film »Hineinlehnen verboten!« imaginiert
ein
Buch in Großaufnahme auf den Stuhl fallen, so daß eine Seite
aufgeschlagen bleibt, auf der »Die Spitzenklöpplerin«
von Vermeer van Delft abgebildet ist. (2) Der Film
wurde bekannt unter dem Titel »Ein andalusischer Hund« (Ursprünglich
der Titel eines Gedichtbandes. — Auch das soll hier einmal gesagt werden:
Es ist nicht Federico García Lorca gemeint, der sich irrtümlich
angesprochen fühlte. Es ist (wie Buñuel sagt) das einzig Absurde
im und am Film, in dem es weder einen Andalusier, noch einen Hund gibt.)
– Die letzte Einstellung des Films »Dies obskure Objekt der Begierde«
zeigt eine Frauenhand, die mit großer Sorgfalt eine zerrissene Spitze
stopft. (Ein ähnliches Bild gibt es in »Belle de jour«
mit Catherine Deneuve und es gibt weitere Beispiele.) Vielleicht treffen
wir schon hier auf den im Leben Buñuels vorherrschenden Ordnungs-
und Systematisierungszwang. Vielleicht wollte er mit dem letzten Bild seines
letzten Films einfach nur einen ordnenden Schlußpunkt setzen. Es
liegt nahe und ließe sich durch viele Belege untermauern.
Die erste These lautet also:
Es gibt eine Ordnung, für jeden, für jedes Subjekt. Diese Ordnung
ist bestimmt durch immer wiederkehrende Bilder und Inhalte (vgl. »Irritationen
und Obsessionen«).
Die zweite These lautet:
Es gibt nicht nur eine Welt. Es gibt (mindestens) zwei. Es gibt die eine,
die wir zu kennen glauben, in der wir uns alltäglich bewegen und deren
Gesetze wir z.T. definiert haben. Es gibt die andere, der wir täglich
und vor allem nächtlich begegnen, deren Gesetze wir zwar erforschen,
die uns aber dennoch weitgehend unbekannt ist. Diese zweite, andere, verkehrte
Welt ist es, die uns interessiert und die uns im vorliegenden Werk entgegentritt.
Ein
paar Worte zu diesem Bild: Dalí, der Mitautor des ersten Films,
stellte es über Michelangelos „Jüngstes Gericht" (3) und drehte
einen eigenen Film über dieses Werk. — Es ist ein kleines Bild, nur
24 x 21 cm groß. Ich habe Interpretationen gelesen, ich habe einen
wissenden Kollegen befragt — ich könnte Ihnen jetzt eine ausführliche
(materielle) Beschreibung (und vielleicht auch eine Erklärung des
Bildes liefern, aber eine Deutung, die Ihnen überzeugend klarmachen
würde, was Buñuel an diesem Bild faszinierte und warum er sein
gesamtes kinematographisches Werk mit diesem Bild rahmte, dazu sehe ich
mich nicht in der Lage. So wie es für Buñuel ein Geheimnis
war, sollte es auch für uns eins sein und bleiben. Es ist schön.
Auch Renoir konnte nicht erklären, warum es für ihn das schönste
Bild des Louvre war. Womit ich mich (natürlich) nicht mit Renoir vergleichen
will.
Wie gesagt: mit diesem Bild
beginnt das Drehbuch des Filmes, die spätere Montage jedoch schiebt
den am Ende des Buchs stehenden Prolog vor, und der beginnt mit einer der
berühmtesten Szenen der Filmgeschichte:
In der deutschen Literaturgeschichte
gibt es eine Metapher (ist es eine?), die mittlerweile zu Tode interpretiert
wurde: Pauls Celans „Schwarze Milch". Vielleicht liegt es an der geistigen
Verwandtschaft, die im Surrealismus begründet liegt, daß im
Bereich der Filmkunst die entsprechende Nicht-Metapher, der es ähnlich
erging, von Luis Buñuel stammt: das Auge bzw. der berühmte
Schnitt durch ein Kalbsauge. Metapher, so sagt man, ist ein bildhafter
Vergleich. Eine Hand durchtrennt ein Auge: Das ist ein Bild und weiter
nichts. Es sei denn, der Zuschauer beginnt zu vergleichen mit Beispielen
aus seinem eigenen Bildervorrat. Wenn nicht da noch der Mond und die Wolke
wären, die sich ins Bild schieben.
Kurz eine Zusammenfassung
des Filmprologes:
Nach dem Vorspann der
Zwischentitel: Es war einmal
— Buñuel schärft
sein Rasiermesser
raucht eine Zigarette
prüft die Schärfe des Messers an einem Daumennagel
tritt auf den Balkon
— Mond: links
/ von rechts kommt eine schmale Wolke .
Buñuel schaut
— Gesicht der Schauspielerin
Daumen und Zeigefinger öffnen ihr linkes Auge .
das Rasiermesser fährt von rechts nach links über das Auge .
die Wolke (schmal wie ein Rasiermesser) schiebt sich von rechts
nach links vor den Mond .
— das Rasiermesser
durchtrennt von rechts nach links ein Kalbsauge
— das Auge fließt
aus .
— der Film beginnt
mit dem Zwischentitel: Acht Jahre später
Während des Prologs
ist ein Tango zu hören. — Nachdem er diese Szene gedreht hatte, mußte
Buñuel eine Woche lang das Bett hüten; sein Magen und sein
Geist hatten diese Arbeit nicht verkraften können.
Und schon habe ich einen
Fehler gemacht: Die Wolke schiebt sich wie ein Wolke vor den Mond und nicht
wie ein Rasiermesser; sie kann nämlich nicht anders. Natürlich
darf mir hier das Rasiermesser einfallen (was läge näher), aber
es ist und bleibt eine Wolke. Warum können wir uns nicht einmal vom
Vergleichszwang frei machen und beide Bildsequenzen (Wolke — Rasiermesser)
ausschließlich als Ergänzung zu unseren bereits vorhandenen
Erfahrungen hinzunehmen. Es bedeutet nichts, es ist einfach nur da. Die
Psychologin wird mit heftig widersprechen, aber das macht nichts.
Dennoch ist da jedesmal erneut
dies Erschrecken über das ausfließende Kalbsauge. Warum? Wahrscheinlich
weil uns wenig mehr treffen würde als der Verlust unserer Sehkraft;
ist doch unsere Kultur (also das, wozu wir uns gemacht haben) durch diesen
Sinn bestimmt und geleitet.
In einem Text zum Film schreibt
Georges Bataille 1929:
Man weiß, daß
der zivilisierte Mensch durch die Kraft von meist kaum erklärbaren
Ängsten charakterisiert wird. Die Furcht vor Insekten ist zweifellos
eine der seltsamsten und der am weitesten verbreiteten Ängste, zu
denen man erstaunlicherweise auch diejenige zählen muß, die
dem Auge gilt. Es scheint tatsächlich unmöglich zu sein, zum
Thema des Auges ein anderes Wort als >Reiz< zu wählen, denn nichts
an den Körpern der Tiere und der Menschen ist verlockender. Doch liegt
die äußerste Verlockung möglicherweise gerade an der Grenze
zum Schrecken. In dieser Hinsich könnte man das Auge mit der Scheide
verbinden, ein Gesichtspunkt, der ebenfalls heftige und widersprüchliche
Reaktionen hervorruft: und genau dies haben die Autoren von Ein andalusischer
Hund auf ebenso furchtbare wie geheimnisvolle Weise bewiesen, als sie
sich in den ersten Bildern des Films für die blutige Liebe dieser
beiden Teile entschieden. Ein Schnitt mit dem Rasiermesser durch das ungeschützte,
strahlende Auge einer jungen und charmanten Frau wird bis zur Tollheit
von einem jungen Mann bewundert, den ein liegendes Kätzchen beobachtet
und der, da er zufällig einen Kaffeelöffel in der Hand hält,
plötzlich Lust bekommt, ein Auge auf den Löffel zu nehmen.
(4)
Und da bricht unsere Welt
zusammen. — Während in anderen (Eß-)Kulturen das Auge als Delikatesse
gilt, wird es uns vorbehalten (außer im Leberkäs, wie mir vor
Jahren ein Freund glaubhaft versicherte).
Bataille erwähnt in
seinem Text die Insekten. Er stellt sie, was ihre Erschreckenskraft anbelangt,
mit der Zerstörung des Auges auf eine Stufe. In einem der ersten Bilder
nach dem Prolog kriechen Ameisen aus der Hand des Hauptdarstellers. Erneutes
Erschrecken. Und so geht es weiter: Scheinbar ohne logische Folge werden
die Szenen, die Bilder aneinandergereiht. Das würde allerdings voraussetzen,
daß die Autoren die einzelnen Bilder und Szenen mit Hilfe eines Zufallsgenerators
ausgewählt und aneinandergereiht hätten. Dem ist (mit Sicherheit)
nicht so. Es ist ein surrealistischer Film, der seiner eigenen (surrealistischen)
Vernunft folgt; es ist ein Film, der Träume aufzeichnet und wiedergibt,
und Träume haben ja bekanntlich ihre eigene Ordnung, und die zu erforschen
steht einem nur Literatur- bzw. Filmliebhaber nicht an. Dazu gibt es Fachleute.
Ob die aber dem Filmkunstwerk gerecht werden können, das sei dahingestellt.
Nehmen wir den »andalisischen Hund« als einen Traum, der uns
an einem mühsamen Morgen ins Gedächtnis gerufen wird und der
uns desweiteren verfolgen wird.
Zur Abschreckung vor und
zur Heilung von einem übertriebenen Interpretationszwang hier ein
Zitatz aus einer semi-professionellen Deutung. Es bezieht sich auf den
Film »Viridiana« und einen dort gezeigten Gegenstand, der der
Staatsgewalt zum Vorwand diente, den Film zu verbieten. (Dazu später
mehr.)
Das Kruzifix-Messer, in
seiner paradoxen Antinomie zugleich ein Symbol der Erlösung und des
Meuchelmordes, versinnbildlicht exemplarisch den grundlegenden Topos seiner
assoziativen Metaphernwelt vom Schein und Sein der bürgerlichen Gesellschaft,
vom Biedersinn religiöser Eiferer, der sich in Lüsternheit verkehrt,
von der Heuchelei vermeintlich ehrenhafter Männer und ihrer (selbst-)zerstörerischen
Dimension, von einer Moral, die sich in Wahrheit als Unmoral entpuppt —
eine doppelbödige Perspektive, die in Buñuels Werk auf der
Diskrepanz zwischen dem Bildinhalt und der Bildbedeutung basiert und auf
die unauflösbare Amibvalenz des menschlichen Daseins verweist.
(5)
Was aber, wenn Bildinhalt
gleich Bildbedeutung ist?
Soviel zu diesem Film und
dem vielleicht berühmtesten Auge des Jahrhunderts. — Und hier die
erste Mängelrüge:
Ich kann dem Werk Buñuels
(hier) nicht nicht gerecht werden und muß vieles unberücksichtigt
lassen, kann nur wenige Punkt herausgreifen.
Es fehlt in meinen Ausführungen
der Film, der mir und vielen anderen Zuschauern der schönste, gelungenste,
wichtigste zu sein scheint: »Das goldene Zeitalter«, 1930 entstanden.
Um diesem Werk auch nur in Ansätzen gerecht zu werden, bräuchte
ich mindestens eine weitere Stunde Redezeit.
Deshalb zwei Literaturhinweise:
1. Der auf dem Handzettel
angeführte Ausstellungskatalog aus dem Jahre 1994 enthält eine
sehr umfassende Dokumentation (jede Szene ist durch entsprechende Abbildungen
dokumentiert, alle Zwischentitel sind verzeichnet; desweiteren: das Exposé,
das Szenario, ein unveröffentlichter Text von A. Breton und P. Eluard,
eine ausführliche Beschreibung des französischen Nachrichtendienstes
und viele weitere Bild- und Textdokumente.
2. Aus der Fülle
der Sekundärliteratur nur ein Titel: der ebenfalls auf dem Handzettel
angegebene Essay von Peter Nau. Ich habe nichts besseres gefunden. |
---
2. Die verkehrte Welt — oder: Was ist
Wahrheit?
- Lassen Sie uns ganz langsam und genießerisch (wer es denn kann)
die folgenden Sätze des preussischen Philosophen Hegel lesen:
Oberflächlich gesehen
ist diese verkehrte Welt so das Gegenteil der ersten, daß sie dieselbe
außer ihr hat und jene erste als eine verkehrte Wirklichkeit
von sich abstößt, daß die eine die Erscheinung,
die andere aber das Ansich, die eine sie ist, wie
sie für ein Anderes, die andere dagegen, wie sie für
sich ist; so daß, um die vorigen Beispiele zu gebrauchen, das
süß schmeckt, eigentlich oder innerlich am Dinge
sauer, oder was am wirklichen Magnete der Erscheinung Nordpol ist, am innern
oder wesentlichen Sein Südpol wäre; was an der erscheinenden
Elektrizität als Sauerstoffpol sich darstellt, an der nichterscheinenden
Wasserstoffpol wäre. Oder eine Handlung, die in der Erscheinung
Verbrechen ist, sollte im Innern eigentlich gut sein (eine schlechte
Handlung eine gute Absicht haben) können, die Strafe nur in der
Erscheinung Strafe, an sich oder in einer andern Welt aber Wohltat
für den Verbrecher sein. (6)
Selten gibt es eine stimmigere,
eindrucksvollere Übereinstimmung zwischen Text und Bild (eine Szene
aus dem Film »Das Gespenst der Freiheit«). Zwei Grundbedürfnisse
unsere Welt werden umgekehrt: die Nahrungsaufnahme und das Ausscheiden
/ Entleeren. Die feine Gesellschaft sitzt auf Kloschüsseln und führt
gepflegte Gespräche. Überkommt einen Teilnehmer ein, im Hegelschen
Sinne vekehrtes Bedürfnis, geht er zur Haushälterin und fragt
diese diskret nach dem gewissen Örtchen. Dort, in einer Art Speisekammer
angekommen, befriedigt er ungeniert seine „wirklichen" (?) Bedürfnisse.
Eine ordinäre Szene : So verkehrt ist die Welt.
Slavoj Zizek hat diese Umkehrung
auf eine Formel gebracht, die vielleicht verständlicher ist als die
Sätze Hegels. Er unterscheidet dabei zwischen der Botschaft, die der
Zuschauer in den Film hineinliest, und der Haltung, die den Film ausmacht,
die ihn trägt:
„Gewiss, der Mensch ist
ein Tier, das abscheuliche Dinge tut wie Scheiße ausscheiden, aber
wir dürfen nicht vergessen, dass er auch edle Dinge tut, etwa den
Akt des Essens (der Scheiße produziert) zu einem erhabenen gesellschaftlichen
Ritual zu erhöhen." Die wahre Haltung dabei ist jedoch: „Gewiss, der
Mensch tut manche wirklich angenehme Dinge wie zum Bei-spiel, sich auf
der Toilette zu erleichtern, aber dennoch dürfen wir nicht vergessen,
dass er dafür mit dem langweiligen Ritual des Essens bezahlen muß."
(7)
Da wir uns hier in einer
Universität befinden, bewegen wir uns schleunigst aus der Welt unserer
Grundbedürfnisse, unserer Triebe in die Welt des Geistes, ja — noch
weiter — in die Welt der Transzendenz und landen in der Welt der »Milchstraße«.
Ähnlich wie der »andalusische Hund« ist dieser 1969 gedrehte
Film eine strukturierte Anthologie von Einzelszenen. Allerdings gibt es
hier so etwas wie einen ‘roten Faden’ in der Gestalt zweier ‘Tippelbrüder’,
die von Paris aus nach Santiago de Compostella unterwegs sind. Zu Beginn
ihrer Reise begegnet ihnen ein Fremder, der ihnen Geld und den Auftrag
gibt, in Santiago eine Prostituierte zu nehmen und Kinder der Prostitution
zu zeugen, die die Namen „Du bist nicht mein Volk" und „Keine Barmherzigkeit
mehr" tragen sollen. Der rätselhafte Fremde entfernt sich; doch plötzlich
geht ein Kleinwüchsiger nehmen ihm (sein Sohn?), der eine Taube flattern
läßt (der Heilige Geist?). Am Ziel ihrer Reise angekommen, erfüllen
die beiden Clochards ihren Auftrag. Die Hure teilt ihnen mit, daß
Santiago menschenleer sei, keine Pilger anzutreffen, da der Leichnam des
Heiligen Jakobus sich als eine Fälschung herausgestellt habe.
Zur Interpretation dieses
merkwürdigen Rahmens ein Zitat aus dem Alten Testament, aus dem Propheten
Hosea:
Das Wort des Herrn, das
an Hosea, den Sohn Beeris, in der Zeit erging, als Usija, Jotam, Ahas und
Hiskija Könige von Juda waren und als Jerobeam, der Sohn des Joasch,
König von Israel war.
So begann der Herr durch
Hosea zu reden: Der Herr sagte zu Hosea: Geh, nimm dir eine Kultdirne zur
Frau, und zeuge Dirnenkinder! Denn das Land hat den Herrn verlassen und
ist zur Dirne geworden. Da ging Hosea und nahm Gomer, die Tochter Diblajims,
zur Frau; sie wurde schwanger und gebar ihm einen Sohn. Der Herr sagte
zu Hosea: Gib ihm den Namen Jesreel! Denn es dauert nicht mehr lange, dann
werde ich das Haus Jehu für die Blutschuld von Jesreel bestrafen und
dem Königtum in Israel ein Ende machen. An jenem Tag werde ich den
Bogen Israels in der Ebene Jesreels zerbrechen. Als Gomer wieder schwanger
wurde und eine Tochter gebar, sagte der Herr zu Hosea: Gib ihr den Namen
Lo-Ruhama (Kein Erbarmen)! Denn von jetzt an habe ich kein Erbarmen
mehr mir dem Haus Israel, nein, ich entziehe es ihnen. Mit dem Haus Juda
jedoch will ich Erbarmen haben und ihnen Hilfe bringen; ich helfe ihnen
als der Herr, ihr Gott, aber nicht mit Bogen, Schwert und Krieg, nicht
mit Rossen und Reitern. Als Gomer Lo-Ruhama entwöhnt hatte, wurde
sie wieder schwanger und gebar einen Sohn. Da sagte der Herr: Gib ihm den
Namen Lo-Ammi (Nicht mein Volk)! Denn ihr seid nicht mein Volk,
und ich bin nicht der »Ich-bin-da« für euch.
(8)
In diesen Rahmen einer göttlichen
Drohgebärde stellt Buñuel sechs wesentliche Dogmen der katholischen
Kirche:
die Frage über die Natur
Jesu,
das Dreifaltigkeitsproblem,
die Transsubstantiation,
die Allwissenheit Gottes und
das Problem der Freiheit des Menschen,
die unbefleckte Empfängnis
und
die Entstehung des Bösen.
Dabei interessieren ihn nicht
die Dogmen selbst, sondern die Abweichungen, die Häresien. Und somit
geht es nicht um Nächstenliebe, sondern um Inquisition, Verfolgung,
Folter, Verbrennung und Tod. Abstrakte Glaubensinhalte werden recht anschaulich
gemacht, so z.B. die Transsubstantiationslehre, die besagt, daß die
Hostie der Leib Christi sei. Beispiel ist hier die Sekte der Pâthétisten
(auf Deutsch: die Pastetisten), die die Auffassung vertritt, daß
der Leib Christi genau so in der Hostie enthalten sei wie der Hase in der
Pastete. In einer anderen Szene tragen ein Jesuit und ein Jansenit ihren
Glaubensstreit mit dem Degen aus (vgl. Foto von Dreharbeiten: );
jeder Hieb wird begleitet von spitzfindigen Aussage der Kontrahenten.
Aber am Ende steht immer wieder der Henker schon bereit: gut zu sehen auf
einer Zeichnung des Drehbuchautors zu einer Szene aus dem letzten Drittel
des Films: Bibel, Schwert und Henkerbeil begleiten die Glaubensverkündigung: .
Die Gesetze von Raum und
Zeit sind aufgehoben, die beiden Tippelbrüder scheinen direkt einem
Schelmenroman entsprungen zu sein: Der Ältere erklärt dem jüngeren,
warum er einen Bart trägt: Man sieht Maria, die ihrem Sohn klarzumachen
versucht, daß er mit Bart doch um so vieler schöner aussehe.
Stationen der Reise sind Kneipen und Herbergen, dort haben sie ihre Erscheinungen,
vergleichbar den Erscheinungen des Don Quijote; nur daß sie keine
Ritterromane im Kopf haben, sondern Devotionalienbilder (wie Frieda Grafe
anmerkt (9 ). Es geschehen Wunder, warum sie geschehen wird nicht klar.
Träume und Wünsche gehen in Erfüllung: der Papst wird exekutiert;
ein Autofahrer, der die beiden Wanderer nicht mitnehmen will, bricht sich
(ganz nach Wunsch) den Hals, etc. etc.
Der erwachsene Zuschauer
begegnet dem Religionsunterricht seiner Jugend wieder, wenn der denn gut
und fundiert war und viel Wert auf Kirchengeschichte gelegt hat. — Allerdings
nur der katholische Zuschauer, und der auch nur, wenn er gut aufgepasst
hat.
„Dort unten nützen
die Tränen nichts mehr ... Wenn der äußerste Punkt des
Lebens überschritten ist, ist keine Zeit mehr, Buße zu tun."
Eine Beschreibung der Hölle von Luis da Granada. Sie tönt aus
dem Radio des verunglückten Autos (s.o.), wird auf spanisch gesprochen
von Buñuel, ins Französische übersetzt von einem schönen
jungen Mann, einem gefallenen Erzengel, der seinen Pferdefuß in einer
Dreckpfütze versteckt. Er rät den Gammlern, vom Diesseits zu
profitieren und fürs Jenseits auf die Milde Gottes zu hoffen. Nicht
ganz katholisch, diese Darstellung des Teufels, aber nicht unkenntlich.
Eines jedenfalls geht klar aus diesem Bild hervor, dieser junge Mann ist
nicht „der andere", der ferne Gegenpol Gottes. Er gehört dazu.
(10)
Es hört nicht auf. Der
Fluß fließt, schwillt an und rollt weiter. Man kann immer nur
wieder staunend zusehen, (wieder-)erkennen, erinnern.
Jesus mit seinen Jüngern
hetzt durch den Film im ständigen Wettlauf mit der Uhr, um rechtzeitig
an die Orte zu kommen, an denen er, so wie es geschrieben steht, Wunder
tun muß. Man muß (wirklich!) katholisch sein, um zu empfinden,
was es bedeutet, diese saucen- und himbeerfarbenen Gewänder in Bewegung
zu sehen. Man muß einen Teil seines Lebens, während nicht endenwollender
Gottesdienste, den erstarrten Fluß dieser Kleider vor Augen gehabt
haben, um die Subtilität von Buñuels befreiender Geste zu verstehen.
Ikonoklasmus wäre zu affektbeladen. (11)
Es ist eine Gegenwelt, eine
andere Welt und doch die Welt, in der wir leben oder gelebt haben, denn
alles ist wahr, so wahr wie es der Text, der über den letzten Bildern
des Film zu lesen ist, behauptet:
Alles, was in diesem Film
über den katholischen Glauben und über die Häresien, die
aus ihm entstanden sind, ausgesagt wird, entspricht genau der dogmatischen
Position der Kirche.
Die Texte und Zitate
sind entweder der Heiligen Schrift entnommen oder stammen aus alten und
modernen Werken der Theologie und Kirchengeschichte. (12)
Das stimmt (bis auf wenige
Ausnahmen) und stimmt doch wieder nicht. Denn in jeder Erinnerung zeigt
sich die im Film abgebildete Welt anders: andere Farben, andere Bärte,
andere Gesichter ... Die Welt der »Milchstraße« ist (um
mal wieder mit Hegel zu sprechen) die Welt des Glaubens, so wie sie uns
erscheint, was dort als negativ (resp. böse) erscheint (die Häresie),
sollte in unserer wirklichen Welt (im Innern, wie Hegel sagt) als positiv
erscheinen (können). Dann wären wir schon einen ganz schönen
Schritt weiter, denn: Das Beste an der Religion ist, daß sie Ketzer
hervorbringt, wie Ernst Bloch sagt. Und wenn die Ketzer wieder Ketzer
hervorbringen, wird (irgendwann) die ganze falsche Gegenwelt (verkehrte
Welt) verschwinden. Vielleicht.
Luis Buñuel soll auch
hier das letzte Wort haben: Wie Nazarín rief er (der Film)
sehr widersprüchliche Reaktionen hervor. Carlos Fuentes sah in ihm
einen antireligiösen Kampffilm, während Julio Cortázar
sich zu der Behauptung verstieg, der Film käme ihm vor, als sei er
vom Vatikan bezahlt. / Derlei Auseinandersetzungen um die Absichten
interessieren mich immer weniger. Meiner Meinung nach war Die Milchstraße
weder für dieses noch gegen jenes. Abgesehen von den authentischen
Situationen und doktrinären Disputen, die im Film vorkommen, ist er
für mich vor allem eine Wanderung durch den Fanatismus, bei der sich
jeder gewaltsam an sein Stückchen Wahrheit klammert — bereit, dafür
zu töten oder zu sterben. Außerdem fand ich, daß der Weg,
den die beiden Pilger zurücklegen, gleichermaßen für politische
wie für künstlerische Ideologien stehen kann. (13) |
---
3. Irritationen und Obsessionen
Zum Thema Irritationen und
Obsessionen: Wir kehren die Reihenfolge um: zuerst also das (vielleicht)
Positive.
1972 kam Luis Buñuel
anläßlich einer Festivalaufführung von »Der diskrete
Charme der Bougeoisie« nach Los Angeles. Dort lädt ihn der Regisseur
George Cukor zu einem Essen. Alle Größen Hollywoods sind versammelt;
den stärksten Eindruck macht auf ihn ein Greis mit Augenklappe, der
ihm versichert, er sei glücklich, daß er (Buñuel) wieder
in Hollywood sei. Es war der Bedeutendste der Runde: John Ford. Ein anderer
Großer, Alfred Hitchcock, erzählt ausdauernd von seinem Weinkeller
und seiner Diät; vor allem aber drückt er seine uneingeschränkte
Bewunderung über Tristanas abgeschnittenes Bein aus: „Ach, dieses
Bein, dieses Bein ..."
:
"Tristanas
Bein" und andere Obsessionen ...
Wir erinnern uns: Der alternde
Galan Don Lope nimmt eine junge Waise (Tochter eines Freundes) auf, und
da er vor keinem Rock Halt machen kann, verführt er auch sie. Tristana
lernt einen jungen Künstler kennen, verliebt sich. Es gibt eine heftige
Affäre. Man lebt sich auseinander. Und auch hier: Sexualität
ist Sünde, wurde zur Sünde gemacht. Tristana erkrankt, verliert
ihr Bein. Man könnte (!) sagen: Es ist das Opfer, das sie bringen
muß für ihre Abwendung von Don Lope, für ihre heftigen
Emanzipationsversuche. Das Bein als Buße. Und das bei einem Autor,
der uns einige der schönsten Frauenbeine der Filmgeschichte geschenkt
hat. (Vielleicht war dies auch der Grund, daß er Catherine Deneuve
für die Rolle der Tristana auswählte.)
Auf der zweiten Abbildung
sehen wir eine geniale Verknüpfung zweier Obsessionen: Hände
legen sich auf ein (weibliches) Bein. Die menschlichen Gliedmaßen
sind es, die die Bewegung bringen: nicht nur im banalen Sinn der Fortbewegung,
auch im Sinn der Aneignung, der zärtlichen Berührung.
Zur dritten Bildzeile:
Ein immer wiederkehrendes
Ritual, auf vielen Bildern festgehalten, ist für Buñuel das
Karfreitagstrommeln in seinem Heimatort Calanda. Als Ton (hier leider nicht
verfügbar) in einigen seiner Filme zu hören. Es muß ein
Ereignis sein, das jeden Zuhörer in den Bann zieht.
(Anekdote: Vor Jahrhunderten
wuchs in Calanda einem jungen Mann, dem ein Bein amputiert werden mußte,
das Bein wieder an, weil er auf Anraten der Jungfrau Maria den Stumpf mit
Weihwasser einrieb - andere sagen anderes. Aus dem Holz der nun überflüssig
gewordenen Prothese wurden Trommelstöcke geschnitzt. Sie befinden
sich heute im Besitz der Familie Buñuel; und am Karfreitag trommelte
Luis mit ihnen.)
Rituale geben Sicherheit,
man wohnt in ihnen. Das erste Bild der dritten Zeile ist ein Bild der Sicherheit:
die Bußutensilien Viridianas geben ihr die Zuversicht, von ihren
vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Sünden befreit zu werden.
Wo bliebe der gläubige Mensch, gäbe es dieses Ritual nicht? Die
Form ist subjektiv, von Sünder zu Sünder verschieden. Und je
größer der Skrupel, desto umfassender und differenzierter das
Szenario. Ebenso das Essen: Der einfache Räuber Hotzenplotz nahm seine
Hähnchenkeule in die Hand und los gings. Je differenzierter das System,
desto komplizierter auch das Essen. Das kann gehen bis zu dem Punkt, an
dem das Ritual umkippt: verkehrte Welt auf der Kloschüssel, wie wir
gesehen haben. Wie wichtig das dritte Ritual für das Gefüge der
Gesellschaft ist, braucht hier nicht begründet zu werden, es liegt
auf der Hand.
Zur vierten Zeile:
1920 beginnt Buñuel
das Studium der Insektenkunde (Entomologie), das aber auch nicht zu einem
Ende geführt wird. Neun Jahre später kriechen Ameisen aus der
Hand des Hauptdarstellers. Dies ausreichend zu erklären erfordert
eine umfassende biographische Analyse. Es sind halt Ameisen. Außerdem
stammt dieses Traumbild aus dem »andalusischen Hund« von Dalí;
einige Interpreten tun so als sei es von Buñuel — es passt wohl
besser!
Vorlieben sollten besser
nicht gedeutet werden, vor allem nicht bei einem Ordnungsfanatiker
wie Buñuel, der sich von jeder Stadt, in die er in den letzten Jahren
seines Lebens kam, verabschiedete. Wichtig ist — und das hat er immer und
immer wieder betont — daß er mit der Wahl der Tiere keine Aussagen
machen wollte. Nichts herauslesen, was nicht hineingelegt wurde.
Aus den Erinnerungen einige
Zitate zum Thema Tiere:
Ich liebe Spinnen und liebe sie auch wieder nicht. Es ist eine Besessenheit,
die ich mit meinen Geschwistern teile. Faszination und Ekel in einem. Bei
unseren Familientreffen können wir uns stundenlang über Spinnen
unterhalten. Detaillierte und haarsträubende Beschreibungen!
(...)
Ich mag Blindschleichen, und ganz besonders mag ich Ratten. Abgesehen
von den letzten Jahren, habe ich mein Leben lang Ratten bei mir gehabt.
Ich habe sie vollständig gezähmt und ihnen meist ein Stück
vom Schwanz abgeschnitten — Rattenschwänze sind sehr häßlich.
Die Ratte ist ein aufregendes und sympathisches Tier. Als ich in Mexiko
schließlich mehr als vierzig hatte, habe ich sie in den Bergen freigesetzt.
(...)
Ich liebe die Beobachtung von Tieren, vor allem von Insekten. Aber mich
interessiert nicht ihr physiologisches Funktionieren oder ihre Anatomie
in allen Details. Was ich liebe, ist die Beobachtung ihres Verhaltens.
Ich bedaure, daß
ich in meiner Jugend manchmal zur Jagd gegangen bin.
(...) (14)
Also: Er liebte die Tiere,
einige mehr, andere weniger, darum gab er ihnen einen Raum in seinen Filmen.
Eine Obsession — meinetwegen.
Wer sich näher mit diesen
Obsessionen beschäftigen möchte, sei auf eine Ausstellung verwiesen,
die im Sommer dieses Jahres (2000) im Münchner Instituto Cervantes
zu sehen war:
Die Bilder dieser Ausstellung
stellen wiederkehrende Themen und Motive der Filme des aragonesischen Regisseurs
nebeneinander und näher sich so nicht nur dem Werk, sondern auch dem
Menschen Luis Buñuel, seinen Vorlieben und Obsessionen.
Wir bewegen uns aus der
Welt der Tiere, dem menschlichen Körper und seinen Gesten, Objekten
des Alltags in ungewöhnlichen Ansichten, Symbolen und Ritualen. Diese
Bilder entstammen zum großen Teil der Traum- und Vorstellungswelt
Buñuels. Ihre Intensität geht auch nach mehrmaliger Variation
nicht verloren. Vielmehr drängt die Unnachgiebigkeit, mit der Buñuel
sich ihnen widmet, den Betrachter, ein Geheimnis zu suchen, das sich in
der Gegenüberstellung motivischer Variation erahnen läßt.
(15)
Wo diese Ausstellung zur
Zeit zu sehen ist, kann man sicher in München erfahren (Telefon: 089-29071813).
(Zu den Obsessionen gehört
last but not least auch den Buñueloni
und der Martini dry. Diese Cocktails sind so wichtig, daß Buñuel
sie in seiner Autobiographie ausführlich beschreibt.)
Zu den Irritationen:
Sie können hier leider
nicht demonstriert werden, da sie das Abspielen ganzer Sequenzen, ja ganzer
Filme erfordern würden. — Einige Beispiele:
In Das verbrecherische
Leben des Archibaldo de la Cruz will der Held einen einfachen Mord begehen,
doch alle seine Versuche schlagen fehl. In Der Würgeengel kann
eine Gruppe reicher Menschen nach einer Abendgesellschaft nicht die Schwelle
überschreiten und das Haus verlassen. In Der diskrete Charme der
Bourgeoisie haben wir den umgekehrten Fall; fünf Freunde wollen
zusammen speisen, immer jedoch verhindern unerwartete Komplikationen die
Erfüllung dieses einfachen Wunschs: Sie verwechseln den Termin für
das Diner, die Polizei stürmt herein und durchsucht das Restaurant
nach Drogen. Die (falsche) Wahrnehmung der Paare ist, daß das geplante
Essen durchaus hätte stattfinden können und nur eine Reihe unglücklicher
Umstände dies verhinderte — dabei fällt jedoch unter den Tisch,
daß diese unglücklichen Umstände notwendig dazwischen kommen
und das Diner sozusagen von der fundamentalen Struktur des Universums selbst
vereitelt wird. In Nazarin, wo die Erzählung einem Munster
endloser Demütigungen und Fallstricke folgt, muss der idealistische
Priester Nazarin, dem das Leben eine Art Reise in Christi Fußstapfen
ist, erkennen, wie seine Hoffnungen auf Befreiung ausgerechnet auf dem
Weg zur Freiheit zuschanden werden. Letztendliche Einsicht Nazarins ist,
daß alles, was er bislang als bloße Ablenkungen auf seinem
Weg zur Freiheit abgetan hat — die zufälligen, unerwarteten Demütigungen
und Fallstricke — , eben den Rahmen seiner tatsächlichen Freiheitserfahrung
darstellen.
Das Beispiel schlechthin, vielleicht der Schlüssel zu dieser ganzen
Serie, ist Buñuels letzter Film Dieses obskure Objekt der Begierde.
Hier schiebt eine Frau mittels einer Abfolge absurder Tricks den Vollzug
des Geschlechtakts mit ihrem bejahrten Liebhaber immer wieder hinaus —
so etwa entdeckt der Mann, als er sie endlich im Bett hat, unter ihrem
Nachthemd ein altmodisches Korsett mit unzähligen Schnallen, die er
unmöglich lösen kann. (16)
Dies ist deswegen ein Beispiel
schlechthin, weil es, wie könnte es bei Buñuel anders sein,
religiös geprägt ist. Wir haben die unerreichbare Transzendenz,
die, wie könnte des bei Buñuel anders sein, (hier) im Sexuellen
liegt: der Geschlechtsakt. Auf dem Weg dorthin türmen sich vor dem
Suchenden, Strebenden, Gläubigen, egal wie wir ihn nennen, sehr triviale
Hindernisse auf. Es gibt viele Namen für dieses transzendente Subjekt:
Vernunft, Paradies, klassenlose Gesellschaft, Nirvana ... egal ...! Der
Weg ist verbaut. Wir können nicht ins Ziel gelangen, der Glaube ist
eine Illusion. |
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4. Respekt und Solidarität — und
nicht: Blasphemie
Der Film »Viridiana«
soll uns Beispiel sein für eine besondere ‘Gattung’ im Werk Buñuels:
die ‘gescheiterten Heiligen’ (die eigentlich zum Kapitel der „Irritationen"
gehören) und er kann uns Beispiel sein für den Umgang der Justiz
mit dem Werk des Autors.
Zuerst eine Inhaltsangabe,
verfasst vom Oberstaatsanwalt am Landgericht von Rom:
»Viridiana«
ist die Geschichte einer tieffrommen Novizin, die vor dem Ablegen der Gelübde
in ihrem Kloster noch einmal zum Gut des Onkels Don Jaime, zurückkehrt
und von diesem bedrängt wird. Don Jaime hat in der Hochzeitsnacht
seine Braut verloren. Er ist ein Fetischist, der mit peinlicher Sorgfalt
das Hochzeitskleid der Verstorbenen aufbewahrt. Weil er meint, Viridiana
sehe der Toten ähnlich, verliebt er sich und bittet sie um ihre Hand.
Viridiana verweigert sich. Der Onkel bringt sie dazu, das Hochzeitskleid
anzuziehen, betäubt sie mit einem Schlafmittel, legt sie, wie eine
Leiche, mit gefalteten Händen aufs Bett und ist versucht, sie zu vergewaltigen,
nimmt dann aber Abstand von diesem Vorhaben. Als Viridiana aufwacht, läßt
er sie in dem Glauben, er habe sie im Schlaf mißbraucht, um sie dazu
zu bringen, bei ihm zu bleiben. Entsetzt weist das Mädchen ihn zurück
und flüchtet aus dem Haus, um ins Kloster zurückzukehren. Doch
der Alte bringt sich, von Gewissensbissen gepeinigt, um, nachdem er sie
als Miterbin seines Gutes eingesetzt hat. Jetzt bekommt Viridiana ihrerseits
Gewissensbisse, denn sie ist davon überzeugt, die Schuld an Don Jaimes
Tod zu haben. In der Hoffnung, ihre Qual zu lindern, verzichtet sie auf
den Schleier und widmet sich der Philantropie. In dem Landhaus, das sie
mit ihrem Cousin Jorge und dem Dienstmädchen Ramona bewohnt, nimmt
sie eine Gruppe finsterer Bettler auf, die sie ernährt und beten läßt.
Für diese Art von Wohltätigkeit für einige wenige arme Menschen
bringt der zweite Erbe des Gutes wenig Verständnis auf. Jorge, unehelicher
Sohn Don Jaimes, lebensuntüchtig und skrupellos, möchte das Gut
renovieren und modernisieren. Für ihn bedeutet Gutes tun Arbeiten,
Schöpfen, Handeln. Und Viridiana ist am Ende dazu gezwungen, den Realitätsgehalt
dieser Lebensanschauung anzuerkennen. Ihre Armen zeigen sich nämlich
für ihre Großzügigkeit nicht erkenntlich, dringen eines
Abends betrunken und lärmend ind das Wohnhaus ein und veranstalten
ein Bankett, das zur Orgie ausartet. Viridiana kommt hinzu und wird von
einem ihrer Schützlinge angefallen, doch Jorge rettet sie, indem er
einen der Bettler dazu bringt, den rohen Kerl umzubringen. Das Mädchen,
inzwischen völlig verwandelt, bietet sich ihrem Cousin an. Die letzten
Bilder des Films zeigen, daß Viridiana einen anrüchigen Lebenswandel
eingeschlagen hat und sich aller Wahrscheinlichkeit nach eine Dreiecksbeziehung
mit Jorge und Ramona anbahnt.
(17)
— soweit die
Staatsmacht. Der Film wurde freigesprochen und durfte (in Italien)
wieder gezeigt werden; nicht so in Spanien. Nachdem er in Cannes als offizieller
spanischer Beitrag mit der Goldenen Palme geehrt worden war, kam es zum
Eklat: Der Film wurde vom Minister für Tourismus und Information sofort
verboten, der Generaldirektor des spanischen Filmwesens wurde entlassen.
Das Verbot hat einen besonderen Reiz: Nachträglich wurde dem Produzenten
die Drehgenehmigung entzogen. »Viridiana« ist also ein Film,
der gar nicht hätte gedreht werden dürfen.
Buñuel schreibt in
seinen Memoiren: Die Affaire machte ein solches Aufsehen, daß
Franco sich den Film selbst vorführen ließ. Ich glaube, er hat
ihn sich zweimal angesehen, und wie mir die spanischen Coproduzenten erzählten,
fand er ihn gar nicht so besonders verwerflich — nach allem, was er gesehen
hatte, muß er ihm wohl ziemlich harmlos vorgekommen sein.
(18)
Ein Stein des Anstoßes
war das bereits erwähnte Kruzifixmesser (wie es funktioniert zeigen
die Abbildungen: ),
ein Gebrauchsgegenstand in Devotionalienläden, zumindest in Spanien,
zu Tausenden verkauft. Buñuel wurde auf das Messer aufmerksam, als
er sah wie eine Nonne mit ihm eine Orange schälte. Es gehört
im Film zur Hinterlassenschaft Don Jaimes und wird (nur kurz) von Jorge
betrachtet und dann beiseite gelegt. Es soll also das Wesen des Verstorbenen
charakterisiert und nicht die Religion verhöhnt werden. — So erkennt
es auch der Staatsanwalt in Rom.
Weitere Gegenstände,
deren Herzeigen als Blasphemie-Beweis gelten sollte (siehe unten links):
:
Nachdem Viridiana im Haus ihres (noch lebenden) Onkels angekommen ist,
packt sie ihren Koffer aus, der nur ein Nachthemd, eine Dornenkrone, Hammer
und Nägel enthält. Auch hier bewiesen die Ankläger wieder
einmal ungenügende Kenntnisse in Religion und Religionsgeschichte.
Abgesehen vom Nachthemd, dienten diese Utensilien immer wieder als Hilfsmittel
bei Bußübungen (wie bereits erwähnt). Also kann hier wohl
nur der Unkundige von Blasphemie reden.
Die mittlere Reihe der Abbildungen
zeigt Viridiana, und zwar nach dem bekannten Schema: vorher — nachher: .
Zu Beginn die tieffromme Novizin (wie der Staatsanwalt schreibt),
am Ende die zu einem anrüchigen Lebenswandel bereite Frau (wie
ebenfalls der Staatsanwalt schreibt). Dazwischen liegt ihre Begegnung mit
der wirklichen Welt, die sie aus ihrer verkehrten Welt reißt, oder
umgekehrt. — Womit wir wieder beim Hauptthema wären.
Wie geschieht ein solcher
Wandel? — Ich möchte ihn am Beispiel einer (ebenfalls inkriminier-ten)
Szene deutlich machen:
„Das letzte Abendmahl": .
Wie das Bild entstand: Ich
hatte die Szene mit der Wiedergabe des Abendmahles von Leonardo da Vinci,
die dann so berühmt geworden ist, nicht vorgesehen. Aber als ich ins
Studio kam und den Tisch, das weiße Tischtuch und die Aufstellung
der Bettler sah, kam mit plötzlich die Idee. Ich gab dann die Anweisung,
noch vier weitere Statisten zu holen. Denn, siehst Du, im Film sind nur
neun Bettler und am Tisch sind es dreizehn. Wenn ich früher daran
gedacht hätte, hätte es mich nichts gekostet, dreizehn statt
neun im Film zu haben. (19)
Obwohl auch diese Bemerkung
zur Vorsicht bei einer (vielleicht) vorschnellen Interpretation rät,
kann man doch sagen, daß, zumindest für den Zuschauer, in diesem
Bild alle Bewegungen des Films zusammentreffen. Wir finden, in der Karikatur
verborgen, Viridianas religiösen Impuls, allerdings schon arg demontiert;
wir finden hier auch ihre philantropischen Neigungen, bildhaft dargestellt
in der Speisung der Armen, die jedoch in einer Orgie endet. Was wir vor
allem finden, ist der Gegenschlag der wirklichen Welt gegen die verkehrte
(oder umgekehrt). Nächstenliebe läuft ins Leere, kippt um und
erreicht ihr Gegenteil: Die Ausgebeuteten werden Ausbeuter, die ihre Befreiung
verhöhnen und ihre Wohltäterin lächerlich machen. .
In keinen anderen Bild des
Films wird die Vergeblichkeit allen Gut-sein-wollens so deutlich wie hier.
Viridiana ist gescheitert und mit ihr ihre Caritas-Haltung. Und damit wird
deutlich, wohin (nach Buñuel) jeder Glaube führen muß:
zur Frustration und letztlich zum Scheitern gegenüber der realen Welt.
Aber: Ist diese reale Welt die wirkliche Welt? Ist sie die verkehrte Welt?
Am Schluß des Films verbrennt Viridianas Dornenkrone und so bewahrheitet
sich der Kernsatz des Films:
„Sieh mich an: ich tue
Böses, sie tun Gutes. Aber was taugt dann ihr Leben? Sie auf der guten
Seite, ich auf der bösen ... Weder sie noch ich sind zu etwas nütze."
(20)
Viridiana gehört unsere
und Buñuels Sympathie.
Dieser Kernsatz wäre
der Satz, den man über das gesamte Werk des Bauernjungen aus Calanda
stellen könnte; er würde dies akzeptieren.
Oder — um einen bekannten
Satz eines bayerischen Geistesverwandten unseres Autors zu zitieren
— wie Herbert Achertbusch sagt:
Du hast keine Chance,
aber nutze sie.
Mängelrüge
Nr. 2:
Ich bin nicht eingegangen
auf den Dichter / Autor / Schriftsteller Luis Buñuel, auf seine
Lyrik, seine Prosa, seine Essays. Ich habe seine fantastische Autobiographie
zitiert, aber zu wenig gewürdigt als das Werk eines Menschen, der
die Menschen und die Tiere liebte. Ich bin nicht eingegangen auf die vielfältigen
Korrespondenzen zwischen literarischem und filmischem Werk (ein sehr schönes
und dankbares Thema für eine Magisterarbeit!). Für dieses Versäumnis
bitte ich um ihre Verzeihung; und: denken Sie an meine Eingangsworte!
Lesen Sie bitte das Buch:
»Die Flecken der Giraffe«; auf Ihrem Handzettel vermerkt.
Lassen Sie mich zum Schluß
kommen und gestatten Sie mir bitte, ein wenig persönlich zu werden,
denn nur so kann es gelingen zu zeigen, wie Luis Buñuel für
mich und dadurch auch für andere (ich unterstelle es, ich hoffe es)
zum „Auge des Jahrhunderts" werden kann. |
---
5. Luis Buñuel —
— oder: Das Auge des Jahrhunderts
Ich muß nun etwas erklären:
Zu Beginn seiner Karriere
als Filmautor zerschneidet Buñuel ein Auge und wird krank. Das durch
ein Rasiermesser geöffnete Auge sieht:
Es wirft nun einen anderen
Blick auf die Welt und eine neue Welt entsteht: eine Traum-, eine Gegenwelt.
Es dauert lange, bis sich der Blick eingewöhnt hat, dann aber will
er nur noch mit diesem Auge sehen. Und der Mensch, dem dieses Auge gehört,
achtet den, der es zerschnitten hat. Später, wenn er wirklich gesehen
hat, wird er den Täter lieben. — So erging es mir.
Und das kam so:
Anfang der 70er Jahre verkaufte
ich im Münchner Filmmuseum die einzige wirklich lesenswerte Filmzeitschrift
in deutscher Sprache: die „Filmkritik". Das Museum wurde geleitet vom Gründer
dieser Zeitschrift: Enno Patalas. Es gab einiges zu lesen über und
von diesem Regisseur; es gab viele Retrospektiven, u.a. auch eine (fast)
vollständige Schau aller Filme Luis Buñuels. Der erste (prägende)
Eindruck war: Das ist nur ein Film, alles Filme sind Teil eines
Films. Der nächste Schritt lag nahe: Natürlich ist das nur ein
Film, denn sie sind ja alle von einem Menschen gemacht und der geht (für
dich) voll in diesen Filmen auf, er ist dieser Film. Das schafft Vertrauen.
Ein viertel Jahrhundert später
wäre Luis Buñuel ein Jahrhundert alt geworden. Und so waren
viele seiner Filme noch einmal in einem Fernseh-Zusammenhang zu sehen.
Der Unterschied zum Kino-Zusammenhang (Retrospektive) soll hier nicht erläutert
werden. Hinzu kam die Einladung hier etwas zu diesem Autor zu sagen. Die
Folge: Filme sehen, Bücher lesen. Die Folge davon: Ich begann das
Objekt meiner Begierde zu lieben, zu lieben als einen Menschen, der die
Menschen und die Tiere liebte.
Beispiel: Federico
García Lorca
Bei meiner Lektüre fand
ich einen Text, der vor 30 Jahren (zum 70. Geburtstag) von Helmut Färber,
einem Autor der erwähnten „Filmkritik" (so schließt sich der
Kreis) in der „Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde und
in dem folgende, das Werk Buñuels zusammenfassend charakterisierende
Sätze zu finden sind:
Es ist eine dilettantische
Aufklärung verbreitet, die noch immer nicht begreifen kann, daß
ihr Spott gegen Irrationalismus für die Herrschaft der Gewalt gespottet
ist. Der Surrealismus, Buñuels Filme, sind so wenig „gegen", wie
sie „für" die Vernunft sind. Sie haben nur überall Vernünftigkeit
und Ordnung als die Handlanger von Willkür und Unterdrückung
gefunden.
Wo immer in Buñuels
Filmen Ordnungen sind, durch die das Zusammenleben der Menschen reglementiert
ist, die Familie, die Klassen, die Polizei, die Moral, die Verwaltung,
die Industrie, die Traditionen, die katholische Kirche, da ist auch die
Gewißheit, daß keine Liebe sie bestimmt, sondern die Absicht,
jede ungewöhnliche Regung eines Menschen im Keim zu ersticken, sei
es auch nur dadurch, daß man ihm die Unzulänglichkeit der Mittel
und die Ohnmacht einzureden versucht, sich dem allgemeinen Zwang wirksam
zu entziehen; eine Unterdrückung, die in jeder Krisis, jedem Augenblick
einer Entscheidung sofort mit natürlicher, zugleich fast grotesker
Grausamkeit hervorbricht.
Die katholische Religion,
der katholischer Kultus sind Buñuel aufs innigste von seiner Kindheit
an vertraut und bis heute vertraut geblieben in Bildern, die statt Erinnerungen
undurchdringliche Rätsel sind. Auch das Christentum ist nur ein Heidentum.
Man kann in Buñuels Filmen lernen, das christliche Europa mit der
katholischen Kirche zu fürchten, die nicht die Gnade, sondern die
Sünde organisiert. Darum haben bei Buñuel ihre Vertreter das
Verhalten von Insekten. Die christliche Liebe, die Caritas wird von den
Einzelnen geübt, die sich außerhalb ihrer Kirche und gegen die
eigene Klasse zu stellen bereit sind. (21)
— wie Nazarin, wie
Viridiana, wie Buñuel, der seine Figuren liebte und nie verachtete.
Wahrscheinlich ist dies der Grund für meine immer wieder erneute und
erneuerte Hinwendung zu diesem Autor.
Epilog
Lassen wir am Ende den Menschen
zu Wort kommen, der Luis Buñuel achtundfünfzig Jahre durchs
Leben begleitete: Jeanne Buñuel. In ihren Erinnerungen schildert
sie die letzten Tage ihres Mannes und seine Begegnung mit der Erfahrung,
die sein Leben durchgängig prägte – mit dem Tod.
In den Wochen vor seinem
Tod führte Buñuel lange Gespräche mit Pater Julián,
einem Dominikaner. In seiner Autobiographie schreibt der über diese
Unterhaltungen: Öfter haben wir uns über den Glauben und die
Existenz Gottes unterhalten. Da er bei mir auf einen unerschütterlichen
Atheismus stößt, hat er einmal gesagt: Ehe ich sie kannte, spürte
ich meinen Glauben manchmal wanken. Seit wir miteinander reden, ist er
wieder völlig gestärkt." Das gleiche kann ich von meinem Unglauben
sagen. (22)
Jeanne Buñuel schreibt:
Das Leben ist traurig.
Etwa zehn Tage vor seinem Tod sagte Luis zu Pater Julián: „Es wäre
gut, wenn Jeanne vor mir sterben würde. Was soll die Arme nur alleine
machen?" Und wie sich durchs Leben schlagen ohne seine Hilfe und Anwesenheit?
Aber ich habe ihn überlebt, und hier bin ich nun, allein in unserm
Haus. In Wirklichkeit bin ich nicht allein, Luis ist weiter in meinem Kopf
und in meinem Herz anwesend. Ich sehe ihn immer, hier im Haus. Ich kann
seine Abwesenheit immer noch nicht fassen.
Luis Zustand verschlechterte
sich. Ich erhielt ein Telegramm von Rafael: „Komme morgen, um Papa zu sehen."
„Luis, Rafael kommt,
um dich zu sehen. Ist das nicht schön?" „Ja, ja, er kommt, um mich
sterben zu sehen."
„Das ist doch Blödsinn.
Luis. Er hat Urlaub und will bei uns sein." Rafael kam des Morgens. Am
selben Tag fíel Luis in ein Koma, und der Arzt ordnete seine Einweisung
ins Krankenhaus an. Dort holten sie 18 Liter Wasser aus seinem Körper:
mehr als 24 Stunden war er ohne Bewußtsein, dann kam er wieder zu
sich. Er bat mich:
„Jeanne, gib mir eine
Zigarette."
„Hier sind keine Zigaretten,
Luis."
„Doch, in der Nachttischschublade
sind welche." „Luis, wir sind nicht zu Hause. Du bist krank geworden, wir
sind im Krankenhaus."
„In welchem?"
„Im englischen."
„Was wird das die Kinder
kosten!" Luis dachte immer an die Kinder. Doktor Césarman kam, um
ihn zu untersuchen. „Doktor, ich möchte eine Zigarette."
„Aber natürlich,
Don Luis." Der Doktor bot ihm eine an. Er rauchte sie mit Genuß.
Am Morgen des 29. Juli 1983 legte ihn die Krankenschwester auf die Seite,
damit sich sein Körper von der vorherigen Position erholen konnte.
Ich rückte einen Stuhl ans Kopfende und legte seine Hände in
meine. Nach einer Weile spürte ich, daß ihn etwas störte:
„Wie geht es dir, Luis."
„Ich sterbe."
In diesem Augenblick
merkte ich, daß sein Pulsschlag stehenblieb. Ohne ihn loszulassen
drückte ich die Schelle und rief um Hilfe. In wenigen Sekunden kamen
Ärzte und Krankenschwestern ins Zimmer, aber sie konnten nichts mehr
tun: Luis war tot. Ich blieb an seiner Seite und hielt seine Hände.
(23) |
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Anmerkungen:
---------------
1) Luis Buñuel: Die
Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle, Berlin 1991, Seite 179.
2) Yasha David (Hrsg.):
¿Buñuel! Auge des Jahrhunderts, Bonn 1994, Seite 365.
3) Vgl. A.a.O., Seite 284.
4) Georges Bataille: Kannibalische
Leckerei, a.a.O., Seite 134.
5) Margarete Wach: Die Besessenheit.
Hommage auf Luis Buñuel zum 100. Geburtstag, in: Filmdienst, Köln,
Ausgabe 04/2000, Seite 8.
6) Georg Wilhelm Friedrich
Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 1973. Seite 129.
7) Slavoj Zizek: Obszöne
Kehrseite. Wenn das Erhabene und das Lächerliche sich überlappen:
Zum 100. Geburstag des Regisseuer Luis Buñuel, in: Die Zeit, Hamburg,
Nr. 8 vom 17. 2. 2000, Seite 51.
8) Hosea 1, 1-9 (Einheitsübersetzung).
9) Frieda Grafe: La Voie
Lactée, in: Filmkritik, Frankfurt/M, 1969, Heft 8, Seite 505.
10) A.a.O., Seite 506.
11) Ebda.
12) Luis Buñuel:
La voie lactée / Die Milchstraße, Frankreich 1969.
13) Luis Buñuel:
Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Königstein/Ts. 1983, Seite 237.
14) A.a.O., Seite 215 ff.
15) Buñuels Obsessionen.
Eine Ausstellung des Instituto Cervantes, München 2000.
16) Zizek, a.a.O.
17) Pasquale Pedote (Oberstaatsanwalt,
Rom), in: Yasha David, a.a.O., Seite 442-443.
18) Buñuel, Seufzer,
a.a.O., Seite 228.
19) Luis Buñuel:
Die Erotik und andere Gespenster. Nicht abreißende Gespräche
mit Max Aub, Berlin 1992, Seite 47.
20) A.a.O., Seite 104.
21) Helmut Färber:
Buñuel. Zu seinem 70. Geburtstag am 22. Februar 1970, in: Süddeutsche
Zeitung, München, 21./22. 2. 1970.
22) Buñuel, Seufzer,
a.a.O., Seite 247.
23) Yasha David, a.a.O.,
Seite 342. |
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