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Zwei junge Leute begegnen sich in der Nacht, in einem Niemandsland der Erkenntnis zwischen dem Zeitalter des Buches und der audivisuellen Zukunft. SIE kommt von unter dem Meer. Sie ist aus den neuen Citroën-Werken geworfen worden, weil sie den Arbeitern Taschentonbandgeräte gab. Sie heißt Patricia. Sie ist die Tochter Lumumbas und der Kulturrevolution. ER heißt Emile Rousseau. Die Polizei sperrte ihn von der Universität der Lichterstadt aus. Vor der Unmöglichkeit, ihr normales Leben weiterzuführen, beschließen die beiden, verstehen zu lernen, was in ihnen und um sie herum vorgeht. Was lernen sie? was verstehen sie? Alles und wenig zugleich. Alles, denn sie hören sowohl vom amerikanischen Guerillakrieg wie von Vietnam; sie lesen einen Text von Descartes und einen modernen Roman, sehen die Werbung in den Illustrierten und eine Fibel, die von der Regierung herausgegeben wird. Im Radio hören sie die Stimmen des Volkes. Wenig, denn in allem, was sie hören und sehen, finden sie dieselbe Struktur fortschreitender Unterdrückung. Sie unterliegen der Zensur und der Werbung. Der Film ist das Resultat ihres Kampfes um Erkenntnis. LE GAI SAVOIR ist lehrreich und unterhaltend; kein Film, sondern eine Mühle, die Film und Politik in ihre Grundbestandteile auflöst, um die Revolutionäre und die Kinogänger aller Länder zu vereinigen. LE GAI SAVOIR ist kein Film, aber wer in den nächsten zwanzig Jahren frei um sich sieht, wer ein Buch zu schreiben oder Filmmaterial zu belichten hat, gebraucht notwendig einige der in diesem Film gewonnenen Erkenntnisse. Sein eigentlicher Titel lautet darum „Elemente des Films und des Fernsehens", wo wie es Elemente der Grammatik oder der Geometrie gibt. (Herbert Linder
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HF: Während Patricia auf einem Stuhl sitzt und die Seiten einer Kinderfibel zum Lernen des Alphabets umblättert, demonstriert Emile noch einmal die innige Verwobenheit der ökonomischen und linguistischen Sphäre. Er greift sich einige Worte heraus, mit denen das französische Bildungssystem die Buchstaben des Alphabets illustriert, und behauptet, daß sich an allen Beispielen nicht nur die implizite Verteidigung ökonomischer Privilegien, sondern auch die Unterdrückung alternativer Werte nachweisen läßt. KS: Emiles erstes Beispiel lautet »eine Brioche ist besser [meilleur] als Brot« und entstammt direkt dem Geist von Marie-Antoinette. Der größere Teil des Alphabet-Buches trägt aber eher bürgerlichen Werten Rechnung: »Buchstabe A: kaufen [acheter], und nicht Kunst [art] . . . Buchstabe F: nicht Faschismus, sondern Familie und Käse [fromage].« HF: Emiles Antwort auf das Ganze ist eine differenzierte Darstellung des Verhältnisses zwischen Geld und Sprache: »Banken sind dazu da, um Geld zu verleihen, und Wörterbücher, damit man sich Worte ausborgen kann. Was man aber nicht geliehen bekommt, das ist der Unterschied zwischen dieser und jener Banknote oder diesem und jenem Wort.« Wörterbücher machen jedes Wort verfügbar, ebenso wie die Banken jeden Nennwert — »Faschismus« so gut wie »Familie« und »Käse« ebenso wie »kaufen«. Was sie uns aber nicht erklären können, sind die Unterschiede zwischen den jeweiligen Worten. Wir erfahren aus ihnen nichts über die Hierarchien und Ausschlußverhältnisse, die zwischen den Worten bestehen. Alle Worte scheinen gleich, wie die Bürger in der Demokratie. KS: Patricia hat ihren Arm um Emile gelegt. Sie kehren uns ihre Rücken zu und sinnieren über eine der Regeln, die kein Wörterbuch erläutert, der Bild und Ton aber zu gehorchen haben: die Regel des »eins nach dem anderen«. Diese Regel will es, daß man nie auf zwei Worte oder zwei Bilder zugleich zugreifen kann. Sie verbieten außerdem, die Ausschlußfunktion eines Wortes oder Bildes gegenüber anderen deutlich zu machen. Verfügen wir hingegen über Töne und Bilder, dann lassen sich diese beiden Beschränkungen überwinden. Indem man Bilder und Töne »übereinanderlegt«, kann man zwei Dinge zugleich kommunizieren oder zeigen, was ein Wort oder Bild ausschließt. Mit der Aufschlüsselung dieses Prinzips wirft Emile Licht auf viele der Experimente, die Le Gai Savoir mit Ton und Bild anstellt. (Kaja Silverman
/ Harun Farocki: Von Godard sprechen, Berlin 1998, Seite 154-155)
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Peter Handke: (...) es gibt keine neutralen Bilder, keine neutralen Gegenstände, alle Gegenstände und Bilder sind Sprache, Aussage, versprachlicht und verstaatlicht. (...) Die Phänomäne sind nicht, wie sie sind, sie sind, wie sie sein sollen. Und die Dinge sind Normen, Gesetze. (...) Die Bilder und Töne, die Godard zeigt, sind zugleich auch, wie er sagt, deren Bild-Widersprüche und Ton-Widersprüche. Bei der Arbeit an den Bildern, den Fernsehbildern, den Photos, den Kinobildern, fängt die revolutionäre Arbeit des Filmemachers an. (...) Godard zeigt, wie banal und hinterhältig zugleich das herrschende System mit seiner Versprachlichung und Verstaatlichung der Dinge anfängt, indem er aus einem Dictionaire für Schulkinder zitieren läßt. (...) Inwieweit sind Bilder und Töne Gesetze — darum geht es in Le gai savoir, und Godard führt das vor, indem er etwa Patricia mit der Stimme Emiles sprechen läßt. (...) Es wir so gezeigt, wie mit den Erfahrungen die Wörter Geschichten kriegen. Worauf kommt es an? Es kommt darauf an, zeigt Godard, daß die Zuschauer, nicht nur im Kino, bei Bildern und Tönen erkennen, wo sie gemacht worden sind, unter welchen Bedingungen, wann, von wem. (...) Das ist auch die Sache der Zuschauer und Zuhörer: unterscheiden zu lernen. (...) Godards Le gai savoir könnte der notwendige Versuch sein, zu einer allgemeinen Syntax der Bilder zu kommen. Was sagt das scheinbar gleiche Bild in verschiedenen Gesellschaftssystemen? (...) Godards Film, wie er sich mit dem Auflösen, dem Zusammensetzen von Bildern und Tönen und schließlich dem Vorführen von Bild- und Ton-Modellen befaßt, ist insgesamt ein solches Modell von Bildern und Tönen und für Bilder und Töne. Es ist ein recht komplizierter Film, aber mit dem Wissen, das man daraus gewinnen kann, ist man schon imstande, weiter zu sehen. |
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