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Über Jean-Luc Godard: HISTOIRE(S) DU CINÉMA |
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Ausgangspunkt
der folgenden Überlegungen ist ein Godard-Film, der 1968 erschien,
aber dann ziemlich schnell verschwand: Le
gai savoir. Im Programmheft zur deutschen
Fassung des Films gibt Herbert Linder eine Antwort auf ein paar Fragen
zum Verständnis des Films:
? - Also was soll man da sagen .... Glücklicherweise ist das Publikum intelligent. Die Leute können lesen, sie wissen aus der Zeitung und aus dem Fernsehen Bescheid, obwohl dort Zensur herrscht. Sogar die Untertanen des württembergischen Herzogs Carl Eugen erfuhren, daß in Frankreich Revolution ist; sie konnten sich denken warum. Heute ist die Polizei besser ausgerüstet, die Zensoren werden beim Fernsehen besser bezahlt, die Unterdrückung ist totaler. Es gibt noch mehr Gründe, sich zu empören. ? - Ja, dieser Film ist unbequem. Aber nicht, weil er schwierig zu verstehen wäre - er ist so einfach wie ein Kreuzworträtsel. Unbequem ist er, weil er revolutionäre Gewalt ausübt, und weil viele, die nicht einmal vom herrschenden System profitieren, sich an seine Sklavensprache gewöhnt haben. Linke und Intellektuelle noch mehr als die andern. ? - Ja, dieser Film rechtfertigt sich nicht. Er bringt kein Mitleid, kein Entgegenkommen für die Zuschauer auf. Weil es unnütz wäre. Wer zu einer offensichtlichen Sache eine Erklärung will, ist entschlossen, auch diese in den Wind zu schlagen. ? - Ich würde nicht sagen, daß es keinen Sinn hat, zu diskutieren und zu erklären. Es kommt auf die Situation an, die man zuvor analysieren muß. Aussichtslos ist es, in einer Demonstration einen bewaffneten Polizisten überzeugen zu wollen, daß eine Demonstration Vorrang vor dem Straßenverkehr haben kann. Er darf es sich nicht leisten, überzeugt zu werden. Oder wie Godard sagt: wenn die Nazis mit den Juden im KZ diskutiert hätten, ob sie zu Recht oder zu Unrecht eingesperrt sind, dann hätten die Juden gute Argumente gefunden, aber es hätte ihnen nichts genützt. |
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ändere nichts damit alles anders ist du wirst nicht alle Seiten der Dinge zeigen bewahre dir einen Rest an Unbestimmbarem ich bin allein scheint der Gegenstand zu sagen also von einer Notwendigkeit erfaßt gegen die ihr nichts ausrichtet wenn ich nur bin was ich bin bin ich unzerstörbar inden ich bin, was ich bin und ohne Vorbehalt kennt meine Einsamkeit die eure es sind nun fast fünfzig Jahre daß sich die Kinogänger in der Schwärze der verdunkelten Säle am Imaginären erhitzen um wieder warm zu werden vom Realen dieses rächt sich jetzt und will echte Tränen und echtes Blut abgesehen davon ist das Kino eine Industrie und wenn der Erste Weltkrieg dem amerikanischen Kino erlaubt hatte das französische Kino zu ruinieren sollte der Zweite mit der Entstehung des Fernsehens ihm erlauben, das gesamte europäische Kino zu finanzieren, das heißt zu ruinieren aber zunächst geht es mir um die eigene um meine Geschichte was habe ich mit all dem zu schaffen mit all dieser Helligkeit mit all dieser Dunkelheit manchmal am Abend manchmal am Abend flüstert jemand in meinem Zimmer ich schalte den Fernseher aus aber das Flüstern hört nicht auf ist es der Wind oder sind es meine Vorfahren Geschichte der Einsamkeit Einsamkeit der Geschichte wenn ein Bild für sich betrachtet etwas klar ausdrückt wenn es eine Interpretation enthält wird es sich nicht durch den Kontakt mit anderen Bildern verwandeln die anderen Bilder werden keine Macht über sie haben und es wird keine Macht über die anderen Bilder haben weder Aktion noch Reaktion es ist endgültig und nicht weiter verwendbar im System des Kinematographen das soll heißten daß das Kino niemals eine Kunst gewesen ist und noch weniger eine Technik o Tod alter Kapitän es ist Zeit laß uns die Anker lichten dieses Land ödet uns an o Tod laß uns aufbrechen wenn Himmel und Meer schwarz wie Tinte sind unsere Herzen die du kennst sind mit Strahlen gefüllt kann man die Zeit erzählen die Zeit für sich nein, in Wahrheit wäre das ein verrücktes Unterfangen eine Erzählung, in der gesagt würde die Zeit verstrich sie verfloß die Zeit folgte ihrem Lauf und so fort die Kunst des Kinos besteht darin hübsche Dinge von hübschen Frauen machen zu lassen in seinen Anfängen empfand das Kino nur wenig und glaubte alles zu wissen später, heimgesucht vom Zweifel, vom Schmerz vom Erschrecken vor dem Mysterium des Lebens geriet es ins Schwanken und jetzt, da das Kino alles empfand glaubte es nichts zu wissen die Empfindungen, die ich von der Existenz habe ist noch nicht ein Ich es ist eine unvordenkliche Empfindung sie entsteht in mir aber ohne mich der Mensch der Mensch hat in seinem armen Herzen Gegenden, die noch nicht existieren und wo der Schmerz eintritt damit es sie giebt ein Bild ist nicht stark weil es brutal oder phantastisch ist sondern weil die Verknüpfung der Ideen weitreichend und richtig ist wenn ein Mensch wenn ein Mensch das Paradies im Traum durchquerte und eine Blume erhielte als Beweis für seinen Aufenthalt und er beim Erwachen diese Blume in seinen Händen hielte was würde er sagen ich war dieser Mensch |
Praxis? Bei einem gewissen Stande der Selbsterkenntnis und bei sonstigen für die Beobachtung günstigen Begleitumständen wird es regelmäßig geschehen müssen, daß man sich abscheulich findet. Jeder Maßstab des Guten - mögen die Meinungen darüber noch so verschieden sein - wird zu groß erscheinen. Man wird einsehen, daß man nichts anderes ist als ein Rattenloch elender Hintergedanken. Nicht die geringste Handlung wird von diesen Hintergedanken frei sein. Diese Hintergedanken werden so schmutzig sein, daß man sie im Zustand der Selbstbeobachtung zunächst nicht einmal wird durchdenken wollen, sondern sich von der Ferne mit ihrem Anblick begnügen wird. Es wird sich bei diesen Hintergedanken nicht etwa bloß um Eigennützigkeit handeln, Eigennützigkeit wird ihnen gegenüber als ein Ideal des Guten und Schönen erscheinen. Der Schmutz, den man finden wird, wird um seiner selbst willen da sein, man wird erkennen, daß man triefend von dieser Belastung auf die Welt gekommen ist und durch sie unkenntlich oder allzu gut erkennbar wieder abgehn wird. Dieser Schmutz wird der unterste Boden sein, den man finden wird, der unterste Boden wird nicht etwa Lava enthalten, sondern Schmutz. Er wird das unterste und das oberste sein und selbst die Zweifel der Selbstbeobachtung werden bald so schwach und selbstgefällig werden, wie das Schaukeln eines Schweins in der Jauche. Vorabend von Vaters Geburtstag, neues Tagebuch. Es ist nicht so notwendig wie sonst, unruhig muß ich mich nicht machen, unruhig bin ich genug, aber zu welchem Ziel, wann kommt es, wie kann ein Herz, ein nicht ganz gesundes Hers soviel Unzufriedenheit und soviel ununterbrochen zerrendes Verlangen ertragen. Die Zerstreutheit, die Gedächtnisschwäche, die Dummheit. Warum ist das Klagen sinnlos? Klagen heißt Fragen stellen und Warten bis Antwort kommt. Fragen aber die sich nicht selbst im Entstehen beantworten werden niemals beantwortet. Es gibt keine Entfernungen zwischen Fragesteller und Antwortgeber. Es sind keine Entfernungen zu überwinden. Daher Fragen und Warten sinnlos. Drei Häuser stießen an einander und bildeten einen kleinen Hof. In diesen Hof waren in Schupfen noch zwei Werkstätten untergebracht und in einer Ecke stand ein hoher Haufen kleiner Kisten. In einer äußerst stürmischen Nacht - der Wind trieb die Regenmassen über das niedrigste der Häuser scharf in den Hof hinein - hörte ein Student der in einer Dachkammer noch über seinen Büchern saß einen lauten Klageton aus dem Hof. Er fuhr auf und horchte, aber es blieb still, dauernd still. Eine Täuschung wohl sagte sich der Student und begann wieder zu lesen. "Keine Täuschung" so setzten sich nach einem Weilchen die Buchstaben im Buch förmlich zusammen. Täuschung wiederholte er und half den unruhig werdenden Zeilen mit seinem Zeigefinger nach, den er entlangführte. (aus: Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 1990.) Theorie? Jean-Luc Godard erzählt in "Histoire(s) du cinéma" (1988-1988) weder die sogenannte Filmgeschichte, noch Kinogeschichten. sondern evoziert Bilder, die sich ihm eingebrannt haben, arrangiert in eine Bilder-Beschwörung. Er dringt in die Wahrnehmungen selbst sein, in den Untergrund des Erzählens, dorthin, wo es einem erst mal die Sprache verschlagen hat und wo die künstlerische Form zum Widerstand gegen Überwältigung wird. Im Kreis der Nouvelle Vague war Godard derjenige, der die ästhetischen Verfahren der Moderne am entschiedensten erforscht hat: vor allem das Montieren von Zitaten im Rhythmus des Bewußtseinsstroms; auf der Suche nach einem figuralen Denken, das dem Kino eigen ist: einem "Denken, das eine Form formt, die denkt". Immer habe er, so Godard, vom Zitieren gelebt, nie habe er irgendetwas erfunden: "Mein Beruf oder meine Kunst - das ist mir einerlei - besteht darin, mich umzusehen, umzuhören, aufzunehmen. Da kommt mir alles recht, ob das ein Text ist oder ein Gemälde oder ein Baum oder ein Auto. Das alles sind Zitate." Die tatsächliche Montage besteht darin, zwei Dinge zusammenzubringen, in Kontakt, um ein Drittes sichtbar zu machen, das in beiden vorhanden war: "Ein Bild ist nicht stark, weil es brutal oder phantastisch ist, sondern weil es eine fern liegende Ideenassoziation zustande bringt." Die Montage fördert Neues zutage und entdeckt. Die Brüche sind seine Stärke. Die Melancholie und die Selbstkritik stehen ihm gut zu Gesicht: "Ich kenne das Kino nicht gut genug, um irgendetwas fest zu behaupten." Er war eine Zeit lang in aller Munde - oft bei Leuten, die sich seine Filme nie angesehen hätten. Er hat das Gesicht des Kinos verändern geholfen. Seine Wort- und Bildspiele, die Eisigkeit, die einen anspringt aus "JLG - autoportrait de décembre", sind nicht leicht auszuhalten. Er macht sie mit dem Gedanken, Veränderungen auszulösen. "Immer meilenweit weiter im Realen"?: Pech für die Leute, dass sie es nicht wissen. Es entgeht einem im Leben sowieso das meiste, warum nicht auch der Godard-Film; Diamanten besitzen (persönlich) auch nur die Großgangster, sie schenken sie ihren Frauen, die damit, wenn sie Glück haben, vielleicht aussehen wie bei Lutbitsch, bei Scorsese oder im Renoir-Film. Film ist nicht das wirklich Neue des 20. Jahrhunderts wahrgenommen worden, das er tatsächlich ist; auch wenn dies Neue, worauf Godard besteht, nur umsetzte und ausführte, was Errungenschaften des 19. Jahrhunderts waren: den Roman, die Malerei, den "Einstieg in die Seele" - Proust, Manet, van Gogh, Freud. Der Godard-Film wollte und will mehr; wollte vor allem hinaus über die geschlossenen Welten des (in Teilen geliebten) US-Films. Kino (wie auch das Leben) als Nichtmafiageschäft: Von daher wäre der Godard-Film auch beschreibbar: "Einen Platz auf der Erde" für sich und seine Arbeit fordert der Filmregisseur, auch genannt "der Idiot", in Godards Film Schütze deine Rechte (1988) - zunehmend schwieriger in einer Welt, in der fast nichts mehr Nichtmafia ist, Ökonomie, Politik, Literaturbetrieb. Die Kinder im Kindergarten werden ausgebildet zu Mafiosi; den weniger Glücklichen, denen es zu dieser europäischen Norm nicht reicht, bleibt der Baseballknüppel. Die "Histoire(s)" sind immer alles zugleich: Laufbild, Fotografie, Gemäldekatalog, Pixelmutation, Musik, Geräusch, Filmtonfragment, Sprechstimme, Schrift-im-Bild, Literatursteinbruch, Essaytext. Sie sind Empfindung und Wissen, Information und Emotion, Theorie und Praxis des Kinos, Geschichtsschreibung und Geschichtenerzählung. Sie sind weniger und zugleich mehr als ein Gesamtkunstwerk, weil sie nie "gesamt" und nie "nur" Kunstwerk sein wollen, sondern ein Fluss, der das Ästhetische hineinreißt in die Bewegung des Denkens und der Geschichte. Am Ende ist/sind die Geschichte(n) des Kinos die Geschichte(n) Godards, mit allen Irrtümern, Erkenntnissen und Visionen. Wie die späten Werke von Arno Schmidt ein Fixstern, kaum auszuloten und doch (und deshalb) Utopie und Maßstab. "Übrigens ist es genau das / was ich im allgemeinen am Kino liebe / eine Sättigung herrlicher Zeichen / die im Licht / ihrer fehlenden Erklärung baden." |
Zitate aus: Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma München, ECM New Series, 1999. |
... zitiert aus: Klaus Theweleit: Allein gegen die Mafia, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 49, vom 30.11.2000 // Konrad Heidkamp: Die Seele traut den Augen nicht, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 52, vom 22.12.1999 // Rainer Gansera: Das Kino auf der Flucht / Frieda Grafe: Die Geschichte von der Einsamkeit der Helden, beide in: Süddt. Zeitung, München, vom 2./3.12.2000 // Alexander Horwath: Der Mann mit dem Magnetoskop, in: die tageszeitung, Berlin, vom 23.12.1999. |